Spreitenbach: Inspektion eines Fahrzeugs der Limmattalbahn an der Haltestelle Kreuzäcker. Fotos: Damaris Betancourt
In Zusammenarbeit mit der Limmattalbahn

Die Bahn als Stadtmacherin

Der Bau einer Stadtbahn ist eine wichtige architektonische Aufgabe. 10:8 Architekten haben eine Reihe von Gestaltungsprinzipien für den ganzen Bahnkorridor entwickelt.

Eine Bahn ist in erster Linie ein Verkehrsmittel. Das gilt für die Limmattalbahn genauso wie für ein städtisches Tram, eine U-Bahn oder die Bundesbahnen. Eine Bahn kann aber auch ein Gestaltungsmittel für den öffentlichen Raum sein. Historische Bahnhofsgebäude prägen unsere Städte, das Erscheinungsbild der SBB bindet die Schweiz zusammen. Die einheitliche ‹Architecture de ligne› verleiht der Metrolinie M2 in Lausanne eine ebenso starke Identität wie Jean Nouvels Architektur der Bahnstrecke CEVA in Genf.

Eine besondere gestalterische Wirkung können Tram- und Stadtbahnlinien in Agglomerationen entfalten. Beispielhaft war die Renaissance des Trams in Frankreich. In Strassburg etwa wertete die 1994 eröffnete Tramlinie den öffentlichen Raum mit einem durchgehenden Gestaltungskonzept auf – vom Zentrum bis an die Peripherie. Auf französischen Pfaden wandelte auch Genf, das sein Tramnetz ab Mitte der 1990er-Jahre kräftig ausbaute. In der automobilen Stadt brauchte es einige Überzeugungsarbeit, den Verkehrsraum zugunsten des Trams neu aufzuteilen; die Gestaltung spielte dabei eine wichtige Rolle. Einheitliche, wenn auch weniger ausgeprägte Gestaltungsprinzipien liegen auch den Projekten Tram Bern West und Tram Zürich West zugrunde.

Das Limmattal. Die Bahn verkehr zwischen Killwangen (2) und Zürich-Altstetten (7).

Ein grosses Thema war die Linienarchitektur bei der älteren Schwester der Limmattalbahn, der Glattalbahn. Sie fährt um die Stadt Zürich herum und knüpft ein Verkehrsnetz, das es bislang so nicht gegeben hat. Die Bahn sollte die an der Linie gelegenen Orte nicht nur verkehrstechnisch verbinden, sondern sie auch in den Köpfen der Menschen enger miteinander verflechten – aus Agglomeration wird Stadt. Die neue Bahn im Limmattal führt parallel zu bereits vorhandenen, stark belasteten Verkehrsachsen von der Kernstadt weg. Aber auch sie fährt durch eine Agglomeration mit wenig ausgeprägten öffentlichen Räumen. Im Glatt- wie im Limmattal verkehren die Bahnen weitgehend auf einem eigenen Trassee mit höherer Geschwindigkeit und grösseren Abständen zwischen den Haltestellen als bei innerstädtischen Tramlinien.

Trassee mit drei Dimensionen
Die Gestaltung von Bauwerken an der Schnittstelle von Stadt und öffentlichem Verkehr gehört zu den Kernkompetenzen von 10:8 Architekten. Vor bald 20 Jahren realisierte das Büro die Haltestellen der Zuger S-Bahn mit der charakteristischen roten Leitmauer. Der Umbau des Bahnhofs Zürich-Oerlikon und die Unterführung Nord am Bahnhof Winterthur sind weitere Beispiele für ihr Werk, das einen gemeinsamen Nenner hat: Mit wenigen präzisen Elementen werden selbstbewusste und selbstverständliche Orte geschaffen. Bei der Gestaltung der Limmattalbahn waren 10:8 Architekten im Rahmen des Querschnittsmandats Gestaltung federführend. Als Spezialisten für Fuss- und Veloverkehr war das Büro Stadt Raum Verkehr beteiligt, die Aspekte der Landschaftsarchitektur betreute Andreas Geser mit seinem Team.

Spreitenbach: Standardquerschnitt mit Grüntrassee und beidseitiger Baumreihe.

Das Trassee der Limmattalbahn folgt hauptsächlich den alten Hauptstrassen, die im Zeitalter des Autos zu Ausfallachsen geworden waren. Um aus dieser Hauptachse das Rückgrat der künftigen Limmattalstadt zu machen, setzten die Architekten auf einen streng symmetrischen Strassenquerschnitt. In der Mitte fährt die Bahn, beidseits flankiert von den Fahrbahnen für den Autoverkehr und den Velospuren. Das Bahntrassee ist über weite Strecken als Grüntrassee ausgebildet. Einzig auf den Abschnitten in der Stadt Zürich und im Zentrum von Schlieren, auf denen auch ein Linienbus verkehrt, sowie auf dem kurzen Stück mit Mischverkehr in Dietikon ist das Trassee asphaltiert.

Wo immer möglich machen Baumreihen auf beiden Seiten ein dreidimensionales, stadtraumprägendes grünes Band aus der zweidimensionalen Verkehrsachse. Quasi als Vorinvestition erhält die Strasse so den Charakter eines innerstädtischen Boulevards – auch wenn die Bebauung diesem Bild vielerorts noch nicht entspricht. Insbesondere auf den räumlich wenig oder gar nicht gefassten Abschnitten ausserhalb der Zentren ist das wichtig. Weil Bäume Zeit brauchen, um zu wachsen, ist das heute erst im Ansatz zu sehen. In die dritte Dimension greifen auch die Masten, an denen die Fahrleitung und die Beleuchtung abgehängt ist. Sie stehen in der Regel in der gleichen Achse wie die Bäume, sodass Masten und Bäume den Strassenraum vom Trottoir abtrennen. Im Abschnitt Niderfeld, zwischen dem Bunkerknoten in Dietikon und dem Shoppi-Tivoli in Spreitenbach, liegen die Gleise aus verkehrstechnischen Gründen nicht in der Mitte, sondern am Rand. Baumallee und Fahrleitungsmasten sind aber nach dem gleichen Prinzip angeordnet wie an der übrigen Strecke. Bestimmend für die Auswahl der Baumsorten waren die Eigenschaften der Strassenräume und der angrenzenden Bebauung. Zudem stimmten die Planer der Limmattalbahn ihr Konzept auf die Alleenkonzepte der Gemeinden ab.

Perlen am Schienenstrang
Das im öffentlichen Raum sichtbarste Zeichen der neuen Bahn sind ihre Haltestellen. Neben den passierenden Fahrzeugen sind sie die konstanten Visitenkarten der Limmattalbahn. Sie sollen den wartenden Passagieren ein angenehmes Umfeld bieten, prägen als Perlen am Schienenstrang aber auch das Erscheinungsbild der Bahn entlang der ganzen Strecke. In dicht bebauten Innenstädten sollen sich Tramhaltestellen möglichst unauffällig einfügen. Dort ist der Raum knapp, und historische Bauten dürfen in ihrer Wirkung nicht beeinträchtigt werden. Weil die Limmattalbahn aber nicht bloss ein Verkehrsmittel, sondern auch ein Motor für die Stadtentwicklung und die Gestaltung des öffentlichen Raums ist, sollen ihre Haltestellen in der bisher weitgehend ungestalteten Agglomerationslandschaft ein Zeichen setzen.

Schlieren: Bei der Haltestelle Wagonsfabrik schafft ein kleiner Park einen öffentlichen Freiraum.

Für die insgesamt 27 Haltestellen haben die Architekten einen Standardtypus entwickelt, der – an die jeweilige Situation angepasst – über den gesamten Streckenverlauf eingesetzt wird. Ein schmales Randelement aus Beton bildet das Rückgrat der Haltestelle. Im Bereich der Wartehalle erweitert es sich zu einem Sockel, der die Stahlkonstruktion des Dachs und den Block mit dem Billettautomaten, der Werbung und technischen Einrichtungen trägt. Auf dem Sockel liegt auch die von Beton gefasste, hölzerne Sitzbank. Eine Glashaut umschliesst diesen Bereich auf drei Seiten als Windschutz. Zum Schutz der Vögel ist das Glas mit einem Muster bedruckt, das so aufgebracht ist, dass die dreidimensionale Wirkung eines Vorhangs entsteht. Ein Geländer schirmt die Haltestelle zur Strasse hin ab. Die beiden Haltekanten sind 45 Meter lang und liegen einander exakt gegenüber. Das breite Natursteinband der Kante ist das Gegenstück zum schmalen Rückgrat aus Beton. Auf der Fläche dazwischen liegt Asphalt.

Die Haltestellen erfüllen alle Kriterien des Behindertengleichstellungsgesetzes. Mit Übergängen an beiden Enden sind sie auch Querungspunkte für den Langsamverkehr. Einzelne Stationen sind mit Veloständern ausgestattet, sodass sie auch zu Umsteigeknoten werden.

Mehr als ein notwendiges Übel
Masten, Fahrleitungen, Abspannungen, Ampeln und Beleuchtungskandelaber gehören vielleicht zu den meistunterschätzten und daher oft vernachlässigten Objekten im Stadtraum. Sie sind Dienstleister, die dafür sorgen, dass die Trams mit Strom versorgt sind, dass der Verkehr geregelt ist und dass es auch nachts hell ist. Man mag diese Elemente als notwendiges Übel betrachten – das heisst jedoch nicht, dass ihre Erscheinung uns nicht kümmern soll. In Innenstädten lassen sich Fahrleitungen und Beleuchtung kaum wahrnehmbar an zwischen den Häusern gespannten Drähten aufhängen. Weil das Trassee der Limmattalbahn auch durch wenig dicht bebaute Gebiete führt, braucht es dafür Masten.

Grenze Dietikon–Spreitenbach: Vom Niderfeld her kommend überquert die Limmattalbahn die Mutschellenstrasse.

10:8 Architekten entwarfen einen schlichten, sich nach oben verjüngenden Mast mit rechteckigem Querschnitt, der entlang der ganzen Strecke eingesetzt wird. Im Abstand von 25 bis 28 Metern stehen die Masten jeweils paarweise an der Bahnlinie und übernehmen verschiedene Aufgaben: Sie tragen die Aufhängung und die Abspannung der Fahrleitung, an ihnen ist die Strassen- und allenfalls die Trottoirbeleuchtung befestigt, und sie sind auch die Träger der Ampeln. Um zu funktionieren, haben die Masten ein reiches Innenleben, in dem sämtliche Kabel versorgt sind.

Perfektes Schalungsbild
Eine Spezialität von 10:8 Architekten ist das Schalungsbild des Betons. Bereits beim Umbau des Bahnhofs Oerlikon hatten sie grossen Wert auf die präzise geplante Lage der Schaltafeln gelegt. Auch in der Bahnhofsunterführung in Winterthur zeigt der Beton das für 10:8 typische Bild der gegeneinander versetzten Schaltafeln. Für die Kunstbauten entlang der Strecke der Limmattalbahn haben die Architekten Gestaltungsrichtlinien entwickelt, die die Qualität, das Schalungsbild, die Bindelöcher, die Eckausbildungen, die Oberflächenbehandlung und weitere Parameter definieren.

Schlieren: Nach der Haltestelle Reitmen zweigt das Trasse ab und mündet in den Färberhüslitunnel.

Der sorgfältige Umgang mit dem Beton zeigt sich etwa an den Portalen des Färberhüslitunnels, an den Bauwerken beim Bunkerknoten und an der Abzweigung zum Bahnhof Killwangen-Spreitenbach. Viertelkreise geben den Brüstungen ihre charakteristische Form, und die Schaltafeln sind – selbstverständlich – gegeneinander versetzt. Ein Detail? Gewiss, aber eines mit Wirkung. Denn das versetzte Schalungsbild verstärkt die flächige Erscheinung des Betons, es verwischt allfällige Ungenauigkeiten, und es kann flexibler auf spezielle Situationen reagieren. Der Baumeister mag manchmal schimpfen über diese Architektenideen. Aber wenn man bedenkt, wie lange eine Betonwand hält, lohnt sich der planerische und bauliche Aufwand allemal.

Ein zusammenhängendes Ganzes
Die Limmattalbahn fügt sich selbstbewusst in die Reihe ähnlicher Bauwerke ein. Im Vergleich zu den Tram- und Stadtbahnlinien in Frankreich ist die Gestaltung zurückhaltender, dafür aber auch langlebiger als das Design ‹à la française›. Dort sind zudem die Fahrzeuge meist wahre Designobjekte mit ausgefallenen Schnauzen und futuristischem Interieur. In der Schweiz herrscht ein traditionelleres Verständnis von der Gestaltung eines Schienenfahrzeugs. Doch die Fahrgäste der Limmattalbahn werden feststellen, dass sie auf einer Strecke unterwegs sind, die als zusammenhängendes Ganzes, von A bis Z, vom Aargau bis Zürich, gestaltet ist. Die Kantonsgrenzen verwischen. Einzig der Agglowanderer kann ablesen, ob er im Kanton Zürich oder im Kanton Aargau spazieren geht: Die Zürcher Fussgängerampeln sind mit Rot, Orange und Grün dreiteilig, die Aargauer Ampeln beschränken sich auf Rot und gegebenenfalls blinkendes Grün. Föderalismus der subtilen Art.

Dietikon: Am Bahnhof Dietikon treffen sich die Züge der SBB, der Bremgarten–Dietikon-Bahn und der Limmattalbahn.

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Kommentare

Werner Huber 15.12.2022 15:17
Ja, darum heisst es hier eben nicht «Wo Tram ist, ist Stadt», sondern «Die Bahn als Stadtmacherin»: Es muss erst noch werden. Vor allem Schlieren hat diesbezüglich in den vergangenen zwanzig Jahren schon einen eindrücklichen Weg zurückgelegt.
Andreas Konrad 14.12.2022 22:04
« Wo Tram ist, ist Stadt .» Das hier von mir frech geklaute Zitat sagt alles. Das Tram ist da. Mit der Stadt hapert es noch ein bisschen .
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