Als wichtigster Teil des «Dialogtag 1» stellten sich die Gruppendiskussionen heraus. Während 90 Minuten blieb man intensiv im Gespräch. Fotos: Derek Li Wan Po
In Zusammenarbeit mit dem Kanton Basel-Stadt

Allianzpotenzial, Filterfunktionen und Beckett als Ermutiger

Der erste der drei Basler «Dialogtage 2023» drehte sich um den sozial-ökologischen Stadtumbau. Rund 150 Leute ersannen und diskutierten reformerische Ideen.

Wer im Internet nach «Basel im Dialog» sucht, findet die Adresse einer Burnout-Beratung. Muss man sich Sorgen machen um Basels Stadtplanung? Nach dem ersten der drei «Dialogtage 2023» lautet die Antwort: Ja – weil die Aufgaben gross und dringend sind; Stichwort sozial-ökologischer Stadtumbau. Und nein. Weil Basel darüber spricht.
 
Gut 150 Menschen schenkten dem Thema «Weiterbauen – aber wie?» einen Tag ihres (Arbeits-)Lebens. Viele aus Pflicht wegen ihren Aufgaben in einer Institution oder in der Verwaltung. Oder weil sie aufgrund ihres fachlichen Profils vom Amt aufgeboten waren. Trotzdem war das Publikum gesprenkelt. Für einen gewissen Ausgleich von Fach-, Laien- und Altersgruppen sorgten Jugendliche und junge Erwachsene des Jungen Rats, des baselstädtischen Jugendparlaments, sowie ältere Frauen, die ihre Präsenz mit Grundsatzinteresse und Vollzugsnotstand begründeten.
 
Ein neues Wort: Allianzpotenzial
 
Für einen sanften Einstieg hatte der Vormittag Referate und Führungen zum Dreispitz-Areal geboten, die auf mässiges Interesse gestossen waren. Als Schlussbouquet ballte Planungsforscher Stefan Kurath sein Wissen in eine Serie von Tipps zur Mitwirkung. Wie schafft man Allianzen zwischen Gesellschaft und Planung? Und wie erhält man diese Verbindungen, ohne Städtebau und Architektur aufzugeben? Am Anfang stehe immer eine Idee, betonte Kurath. Diese Idee müsse bestimmt genug sein, um Interessierte anzusprechen, und offen genug, um Anliegen aufzunehmen. Man lernte ein neues Wort: «Wer den Dialog sucht, bleibt in Kontakt mit der Gesellschaft und erkennt das Allianzpotenzial.» Kurz, ohne Idee kein Städtebau und ohne Allianzen keine wirksame Planung, kein gebautes Projekt. Das war wohl schon immer so, aber die Allianzen ändern sich. Solche über die Köpfe hinweg haben heute wenig Chancen.


Am Schluss wird zusammengetragen. Die Gruppendiskussionen ergaben eine Handvoll konkreter Vorschläge.
Konzentrierte Diskussionen während 90 Minuten
 
Am Nachmittag schwoll das Publikum auf doppelte Stärke an, denn nun starteten die sieben parallelen thematischen Dialoge. Kantonsbaumeister Beat Aeberhard gab den Diskussionsrunden fünf «Thesen» auf den Weg, die er ruhig hätte «Postulate» nennen dürfen, weil es sich dabei nicht mehr um Behauptungen handelte, sondern um anerkanntes Knowhow: Basel brauche 1. eine «Kultur des lebendigen Weiterbauens» und 2. eine zirkuläre Organisation. 3. Nur die kompakte Stadt könne ökologisch sein. 4. Es brauche neues Denken im Baurecht und eine Umbauordnung. 5. Es gelte, Baukultur gemeinsam zu stärken. Stichwort Allianzpotenzial.
 
Während der auf 90 Minuten veranschlagten Gruppendiskussionen stand fast niemand auf, um sich die Beine zu vertreten oder die Gruppe zu wechseln. Sie waren damit der wichtigste Teil des Tages. Aber nicht alle waren am Ende zufrieden. Manchen stand die Frage ins Gesicht geschrieben, was der Anlass bringe, und eine Frau kritisierte, sie habe «autofrei» gesagt, aber die Diskussionsleiterin habe «MIV reduziert» aufgeschrieben. Merke, die Moderierenden sind der Flaschenhals der Mitwirkung und ihre Filterfunktionen heikel.

Zu den knackigen Vorschlägen der Gruppen zählten:

– Eine Baubewilligung «E2030» für experimentelle Projekte
– Normen sollen bei Umbauten prinzipiell keine Gültigkeit haben («Wenn wir nichts machen, gelten sie ja auch nicht»)
– Einsprechen soll nur dürfen, wer direkt betroffen ist
– Eine Art «Schutzstatus light» für Gebäude ohne Denkmal-Charakter
– Die Bevölkerung mitentscheiden lassen, ob ein Gebäude abgerissen wird
– Dreispitz: Undefinierte Flächen einplanen und offen lassen
– Dreispitz: Ein autofreies Quartier
 
Beckett als Trost und Ermutigung
 
Re-Use, autoarm, Abrissmoratorium, reduzieren, Suffizienz, entsiegeln, bepflanzen, Substanz erhalten, aufstocken: Die hauptsächlich gehörten Themen und Schlagworte waren die ökologischen. Die Mitmachenden waren vielleicht altersmässig gemischt, nicht aber in ihrer Weltanschauung.
 
Diesen roten Faden hatte auch Andreas Ruby aufgespürt, der Direktor des Schweizerischen Architekturmuseums, der eine Konklusion probierte. Bauen stehe im Konflikt mit der Nachhaltigkeit, darum müsse der verursachte Schaden so klein wie möglich bleiben. «Bevor ich interveniere, kann ich feststellen, dass 75 Prozent des Projekts bereits existieren.» Mobilisierung des latenten Raum-Potenzials, Raumverbrauch verkleinern, die 15 Minuten-Stadt schaffen und «sich endgültig Jetlag der Charta von Athen befreien.» Und fragen: «Wieviel brauchen wir wirklich?» Die neue Form der Glückserfüllung sei das Nicht-Machen, die aktive Enthaltung, predigte Ruby im fast schon frommen Brustton der Überzeugung. Weniger müssen, weniger wollen. Schliesslich umarmte er das noch immer zahlreiche und aufmerksame Publikum verbal mit jenem Zitat von Samuel Beckett, das genauso tröstet, wie es ermutigt: «Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.»
 
Wie dialogbereit sind die Verantwortlichen?

Reden und reden lassen ist noch kein Dialog, man muss sich auch zuhören wollen. Ob dies gelungen ist am ersten «Dialogtag», liegt zu einem guten Teil im Empfinden der Beteiligten. Wie dialogbereit die Organisatorinnen und Verantwortlichen wirklich sind, wird sich irgendwann am Ende der Tage und des Prozesses zeigen, wenn klar wird, was aus den Ideen und Vorschlägen werden soll. Schon mal mitnehmen können sie, dass der sozial-ökologische Stadtumbau den vollen Support der Anwesenden geniesst. Das kann eine Verwaltung ab sofort in die Waagschale werfen – zum Beispiel im Dialog mit zögerlichen Regierungsrätinnen und Regierungsräten.
 
Wie gross der Einfluss der breit angelegten Mitwirkung auf Basels Stadtbild ist, wird sich am Ende des Prozesses zeigen. Und in einigen Jahren.

 

 

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