Loderer liest Lampugnani
Vittorio Magnago Lampugnani wird immer radikaler, schreibt Benedikt Loderer nach der Lektüre von Lampugnanis neuem Buch ‹Gegen Wegwerfarchitektur›.
Er auch. Auch Vittorio Magnago Lampugnani schrieb sich das Unbehagen – oder ist es gar Verzweiflung? – von der Seele. Bereits in der Einführung kommt der Städtebauhistoriker zum Kern des Problems. Für ihn steht «der Konsumismus, der Verbrauch von Gütern für den es keinen realen Bedarf gibt» im Zentrum. In meinen Worten: wir fressen, saufen, fahren, fliegen, vergnügen, kleiden, feiern, wohnen, zweitwohnen, kreuzfahren uns zu Tode. Wir ersticken an der Verschwendung.
Wie es sich für einen Professor gehört, sieht Lampugnani unseren Zustand aus erhöhter Warte. Er will uns an die «kulturelle Dimension» erinnern. Da stellt er fest: Es gab einmal das Gegenteil der Verschwendung, die Sparsamkeit. Du sollst nichts wegwerfen, ist ihr erstes Gebot. Ihr zweites: Nur was lange hält, ist gerechtfertigt. Die Nutzanwendung aufs Bauen ist zwingend: «Nirgends darf neu gebaut werden. Genauer: Gebaut werden darf grundsätzlich nur mehr dort, wo bereits gebaut wurde. Noch genauer: Es darf kein neues Bauland mehr ausgewiesen werden.» Dann eine Ermahnung zur Dauerhaftigkeit. Du sollst nichts abbrechen. Schliesslich noch: Es gibt keine Bauabfälle, alles ist noch tauglich.
Ich staune. Ist der Städtebauhistoriker, unterdessen Professor emeritus, radikal geworden? Angekündigt hat sich seine Alterswut zwar seit langem schon. Vor fast 30 Jahren schrieb er bereits über die «Modernität des Dauerhaften», was ich damals mit zustimmendem Nicken las, aber eher als eine mögliche Haltung unter andern verstand, weniger als eine Aufforderung zur Umkehr. Unterdessen ist er aber unerbittlich geworden, ich auch. Keine Milde mehr, auch nicht für die lässlichen Bausünden. Offensichtlich ist: So geht’s nicht weiter. Die Sparsamkeit, der Verzicht, die Dauer sind der einzige Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unersättlichkeit. Lampugnani wird immer moderner, je älter er wird, genauer, immer zeitgenössischer, sprich radikaler.
Sparen, scho rächt, aber wo? Zuerst und vor allem das Land, dem wir, in Begriffen immer schlampend, die Natur sagen und nicht einen Wirkungszusammenhang meinen, sondern die Landschaft. Sie muss erhalten werden, darum: «Die Stadt muss sich in sich selbst zurückziehen, möglichst dicht und unverblümt artifiziell. Nur eine kompakte Stadt schont die Natur.» Zugespitzt: Das Gegenteil von Agglomeration ist die Altstadt. Die Naturschwärmer zerstören, was sie anbeten. Eine grundsätzliche Absage an die My-home-is-my-castle-Mentalität ist nötig. Das geht so weit, dass wir in Zukunft auf private Schwimmbäder werden verzichten müssen, auch die Gärten, die «schäbigen Abstandsflächen um das Haus herum», sind vorbei. Die ganze Gartenstadt, die ja zur Pendlerstadt wurde, ist nicht zu halten. Wir werden uns einschränken müssen. Von Kostenwahrheit ist nur am Rande die Rede.
Lampugnani denkt zu Ende und fordert: Hört endlich auf zu bauen! Wirklich nachhaltig ist nur, was nicht gebaut wird. Und die Wohnungsnot? Die auch kommt aus der Verschwendung. In Europa nahm die Bevölkerung seit 1945 um knapp 40 Prozent zu, die Bausubstanz jedoch um 400 Prozent. Wir reissen die billigen Wohnungen ab, um teure hinzustellen. Kurz, die ökonomische Vernunft, frisst die nachhaltige. Das ist unterdessen offensichtlich und daraus zieht Lampugnani den Schluss: Das Wachstum muss aufhören. Was alle wissen, alle bedrückt, alle verdrängen, das schreibt Lampugnani auf 112 Seiten auf. Folgerichtig und wahr. Es wird nichts nützen, denn eines ist offensichtlich: Wir lassen uns nichts wegnehmen! Es stimmt, unser Lebensstil basiert auf der Verschwendung, die aber haben wir zugut. Wir leben jetzt und brauchen keine Zukunft. Sie wird es unseren Nachkommen heimzahlen.
Lampugnani, Vittorio Magnago: Gegen Wegwerfarchitektur. Dichter, dauerhafter, weniger bauen. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023. Bei Hochparterre Bücher für 25 Franken kaufen.
Lampugnani, Vittorio Magnago: Die Modernität des Dauerhaften. Essays zur Stadt, Architektur und Design. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1995. Darin der Satz auf S. 61: «Das Neue ist alt geworden, und das, was vor wenigen Jahrzehnten als alt abgetan worden war, offenbart sich heute als etwas wieder Mögliches.»