Ein Traumbuch
Benedikt Loderer hat Italo Calvino gelesen. In «Die unsichtbaren Städte» spinnt Marco Polo ein Netz aus Erinnerungen und konstruiert Städte mit Elementen aus einem Baukasten. Seltsam unwirklich das Ganze.
Zum Beispiel Leonia, die Stadt, in der alles immer neu ist. Jeden Tag erwachen die Leute in «frischen Bettlaken, waschen sich mit Seifen, die frisch aus der Verpackung kommen, kleiden sich in strahlend neue Morgenröcke», kurz, sie benützen jeden Gegenstand ein einziges Mal. Im Gegenzug stehen auf den Trottoirs jeden Morgen saubere Säcke für die Müllabfuhr. Drin steckt, was gestern gebraucht wurde. «Mehr noch als an den Dingen, die tagtäglich fabriziert, verkauft, gekauft werden, misst man Leonias Wohlstand an dem, was täglich weggeworfen wird.» Ich las das als ein Zitat und fühlte mich bestätigt: Der Konsum bestimmt das Bewusstsein.
Da suchte ich das Buch in meiner Bibliothek, Italo Calvino: «Die unsichtbaren Städte». Dieser Roman erzählt die Gespräche zweier Männer, die sich in der Abendkühle Geschichten erzählen. Marco Polo, der weitgereiste Venezianer und der Grosskönig Kublai Khan sitzen «auf der Freitreppe des Palastes, eine leichte Brise weht» und Polo schildert dem Weltenherrscher die Städte, die er auf seinen Reisen besucht hat. Jede hat ihre Besonderheit. Olivia ist in eine Wolke von Russ und Schmiere gehüllt, Valdrada spiegelt sich in einem See, so dass zwei Städte übereinander liegen, Zenobia, obwohl auf festem Land erbaut, steht auf hohen Pfählen, in Argia hat es an Stelle der Luft Erde, schliesslich fliegt man in Trude zu einem «anderen Trude, das Punkt für Punkt gleich ist, die Welt ist überdeckt von einem einzigen Trude, das nicht anfängt und nicht aufhört, nur am Flugplatz seinen Namen wechselt.» Waren wir nicht alle schon einmal in Trude?
Es sind Traumgeschichten. Zwei, drei Seiten kurz, dazwischen philosophieren Polo und Kublai über das Sein und das Reisen. «Reist du, um die Vergangenheit wiederzuerleben?», fragt der Khan. Antwortet Polo: «Der Reisende erkennt das wenige, was sein ist, währenddem er das viele entdeckt, was er nicht gehabt hat und nicht haben wird.» Er bemerkt auch, dass sich «die Vergangenheit eines Reisenden gemäss der Reiseroute ändert.» Der Khan erkennt, dass Polos Städte ähnlich sind und nicht «durch eine Reise, sondern durch ein Austauschen von Elementen» zustande kommen. Marco Polos Städtebaukasten hat viele Elemente, die Städte aber sind nach demselben Bildungsgesetz konstruiert. Was Polo zugibt: «Aus der Zahl der vorstellbaren Städte muss man die ausschliessen, deren Elemente sich ohne einen verbindenden Faden, eine innere Regel, eine Perspektive aneinanderreihen.»
Erschienen ist dieser Roman 1972, lassen wir’s bei dieser Gattungsbezeichnung, doch ist er seltsam zeitlos. Es gibt keine Gegenwart, alles, was erzählt wird, ist vergangen, da Polo von weit herkommt, doch sind wir trotzdem im 20.Jahrhundert, denn die Traumstädte sind Gegenwartsträume. Wir lesen das Gestern und sehen das Heute. Mir tauchte noch eine Erinnerung auf. Der Zürcher Stadtbaumeister Adolf Wasserfallen, hatte mir «Die unsichtbaren Städte» geschenkt, da er der Meinung war, ich müsse das lesen. Womit er recht hatte. Vorn im Buch steht seine Widmung, die ich nicht entziffern kann. Nur das Datum ist leserlich: 1. August 1986.
Unterdessen verlangt der Zeitgeist nach Dystopien, nicht nach Traumbüchern. Trotzdem habe ich Calvino mit frommem Schauder wiedergelesen, mir war ganz blümerant zumute. Es gab Zeiten, da man noch intellektuelle Spiele treiben durfte, Vexierbilder erfinden, da man stockzahnlächelnd Wahrheiten in kuriosen Büchern verstecken konnte. Calvino macht das in der knappsten, präzisesten literarischen Form, die möglich ist und in einer zupackenden Sprache. Sie tönt etwas altmodisch, ist aber sehr genau. Calvino ist ein Goldschmied des Geistes. Lest, liebe Leute, Italo Calvino!
Calvino, Italo: Die unsichtbaren Städte. Carl Hanser Verlag, München Wien 1984. Für 17 Franken bei Hochparterre Bücher kaufen.