«Was hat 1968 bewirkt? Für mich die Abschaffung Zwinglis und die Geburt der POCH.», schreibt der Stadtwanderer.

Bekenntnisse eines Trittbrettfahrers

Auf dem Tisch liegt ein Jubiläumsbuch. Erschienen 2008 zum 50. Geburtstag der 68-Bewegung. Eine Wühlkiste voller Erinnerungen. Wo war ich damals? Am Rand.

Da staunte das Landei. Im Sommer 1968 kam der Stadtwanderer an einem Montagmorgen in Zürich an. Er spazierte über die Bahnhofbrücke und stand vor einem komischen Gebäude. Unten war eine Glasfassade, aber die Scheiben waren überklebt und übermalt, darüber eine geschlossene Bretterfassade, davor standen vier Polizisten, die das Landei in in autoritärem Ton zum Weitergehen aufforderten. In Zürich, erfuhr ich, darf man nicht stehen bleiben.

Unterdessen hat das Landei 40 Jahre in Zürich gelebt und ihm wird nachgesagt er sei ein Achtundsechziger. Das stimmt, ich war damals meines alters 23, im besten also. Trotzdem habe ich fast alles verpasst. Ich war, bevor ich kam, im Militär, und als ich da war, jeden Abend in der Maturitätsschule. Protest stellte sich heraus, war ein zeitraubendes Metier, ich hatte sie nicht. So langte es mir nur zum mitbewegten Beobachter. Ich war ein Trittbrettfahrer der Bewegung.

Da fiel mir im Bücher-Brocky an der Länggassstrasse in Bern «zürich 68» in die Hände. Praktisch, dachte ich, da kann ich nachlesen, was ich alles verpasst habe. Das Buch fängt schon gut an. Auf einer Doppelseite ist versammelt, was man damals hat lesen müssen. 24 Titel, wovon ich nur «Das andere Geschlecht», «Der eindimensionale Mensch» und «Häutungen» ganz, «Der Ursprung der Familie» halb und «Das Kapital» zu einem Zehntel gelesen habe. Nicht nur meine Klassenlage, auch mein Klassenbewusstsein war und ist schlampig.

Damit ausgerüstet las ich das Buch. Es gibt 18 Kapitel, die je einen Aspekt des «Mythos 68» beleuchten und voneinander unabhängig sind. Ich begann mit dem FC Bakunin, genauer mit der FSVF, dem Fortschrittlichen Schweizerischen Fussball Verband. Dort traf ich auf Koni Frei. Ich merkte bald, dass in diesem Buch viele meiner Bekannten und Freunde versammelt sind, Freundinnen hingegen kaum. Altmeister Bill, Anton Bruhin, Rainer Gangl, Jürg Gasser, Roland Gretler, Thomas Held, Hardy Hepp, Gottfried Honegger, Walter Hubatka, Peter König, Moritz Leuenberger, Iris Maier, Niklaus Meienberger, Fredi Murer, Adolf Muschg, Otto Nauer, Götz Perll, André Pinkus, Franz Rueb, Hugo Schuhmacher, Alice Vollenweider, Heidi Weber, Franz Anatol Wyss, es hört nicht auf. Klar, das sind Leute, die ich nach 68 kennen lernte, doch sind sie alle irgendwie darin verwickelt und ich über sie damit auch.

Das Kapitel über das «Zürcher Manifest», das im Centre le Corbusier eine Woche lang palaverte, interessierte mich auch, denn da war ich dabei gewesen. Ich stand am Rand und hörte zu, lernte neue Wörter wie Klassenkampf, falsches Bewusstsein, systemimmanent, eindimensional, kurz die Politsprache der Aufgewühlten und der Revolutionäre. Wie ist doch der Vietnamkrieg weit weg! Damals tobte er auch auf Zürichs Strassen. Wer erinnert sich noch an den Windenkampf, die Auseinandersetzung um die Erziehungsheime? Das mit der Venedigstrasse hingegen, das habe ich mitgekriegt. Das erste Mal übte ich den Beruf des Gaffers aus und sah einer Hausbesetzung zu. Die Republik Bunker hingegen zählte mich nie zu ihren bürgerverachtenden Bürgern.

Später an der ETH lernte ich Trotzkisten von Maoisten unterscheiden. Sogar Rudi Dutschke hörte ich reden. Ich lernte auch, dass ein Flugblatt nur dann mitzunehmen war, wenn es auf der Rückseite leer war, als Notizpapier. Der Band schliesst mit einer Stadtwanderung. Die loci veri der Bewegung, die Schlachtfelder und Tummelplätze werden besichtigt. Von der Platte 27 geht es in Globus-Provisorium, dann zum Lindenhofbunker, zur Riviera, ins Odeon, zur Buchhandlung Pinkus und selbstverständlich zuletzt in mein Stammlokal die Malatesta. Dort sass Etienne von Graffenried und erklärte mir Zürich aus einem ganz anderen Blickwinkel, aus der Sicht der Bohemiens.

Klar fragen alle am Schluss, was hat 68 bewirkt? Für mich die Abschaffung Zwinglis und die Geburt der POCH.

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