Ich verstehe, wer das Buch gähnend aus der Hand legt. Ich las es auch nur noch aus Pflichtgefühl zu Ende, so der Stadtwanderer..

Die Rechtgläubigen versus die Abtrünnigen

Was der richtige Glauben war, das lehrten Papst und Kirche. Wer vom Glauben abfiel, war ein Ketzer und wurde verbrannt. Benedikt Loderer las «Häresie im Mittelalter», ein Buch das erzählt, wie das ging.

Das Buch lag in Thiersteins Schaufenster und wartete drei Wochen lang auf mich. «Häresie im Mittelalter», der Titel weckte jedes Mal, wenn ich daran vorbeiging, den einstigen Ministranten in mir oder, heutiger ausgedrückt, den katholischen Atheisten. Am Schluss kaufte ich das Buch und las es mit erinnerungsschwerer Mühsal. Alle Feinde des rechten Glaubens tauchten wieder auf: Die Katharer, die Waldenser, die Anhänger Wyclifs und die Husiten, um nur die wichtigsten zu nennen. Vikar Sekinger hatte sie mir alle im Religionsunterricht an die Wand gemalt und ihre ketzerischen Irrtümer zerpflückt. Diese Geschichten waren tief in meinem Erinnerungsvorrat eingelagert und wurden vom Buchtitel aufgeweckt.


Schon im heidnischen Imperium Romanum war es die Pflicht des Herrschers, den rechten Glauben durchzusetzen. Vikar Sekinger nannte das die Christenverfolgung. Später kann auch der christliche König niemals über Ketzer herrschen. Er muss die Unversehrtheit des Glaubens herstellen. Doch was der rechte Glauben sei, das wissen nur der Papst und die Kirche. Sie sucht und findet die Häresie, ja hat ihre Religionswächter dafür ausgebildet und ausgesandt, die Dominikanermönche der Inquisition. Am Ende des Prozesses wird der Ketzer verbrannt. Warum nicht geköpft oder gerädert? Weil am jüngsten Tag von den Verbrannten nichts mehr übrig ist, sie daher auch nicht auferstehen können. Häretiker werden endgültig ausgelöscht, ausgetilgt, ausradiert. Damnatio memoriae.


Keine Häresie ohne Orthodoxie, kein Abweichen vom rechten Glauben ohne ihn. Ohne Papst und Kirche keine Ketzer. Ihre gemeinsame Geschichte zusammenzufassen, erspare ich mir und der geneigten Leserin. Dass es dabei nicht nur um den richtigen Glauben ging, ist offensichtlich. Die französischen Bischöfe und König Philippe le Bel setzten Inquisition und Folter ein, um dem Orden der Templer Häresie und Gotteslästerung nachzuweisen. Sie vernichteten ihn, um an seine Güter zu gelangen. Das ist nur ein Beispiel aus einer langen Reihe von Mord und Totschlag.


Häresie und Reform sind Zwillinge. Die Häresie ist immer eine Antwort auf die Missstände in der Kirche. Ämterschacher, Luxusleben, Kebsweiber, Bauernplagen und mehr, das waren Krankheiten der Kirche. Die Ernsthaften wollten am Anfang ihre Ärzte sein, die Gebresten mit Reformen heilen. Da sich aber der Patient renitent benahm, mussten sie die Dosis ständig erhöhen, bis es zum Bruch kam und es nicht mehr um Missstände ging, sondern um den rechten Glauben. Sind die Sakramente, die ein unwürdiger Priester spendet, noch gültig und wirksam? Wenn nein, ist es ein kleiner Schritt, den Klerus ganz abzulehnen, der seine vielen schwarzen Schafe nicht ausmerzt. Was als Reform beginnt, endet in der Häresie. Es fällt mir schwer, die Sturköpfe zu verstehen, die damals sich gegenseitig einschlugen. Doch ein Blick auf die Fatwas der Mullahs erklärt viel. Wenn es nur einen Gott gibt, meinen, so muss ich deinen ausrotten. Wer Reinheit will, muss morden.


Reform der Kirche heisst Rückkehr. Zur Bibel. Was dort nicht drin steht, spucke ich aus aus meinem Mund. Alles, was die Reformation später abschaffte, von der Traditionslehre bis zur Messe, das alles ist bereits schon von den Ketzern des Mittelalters verworfen worden. Die Reformation ist keine Neuanfang, sie ist eine Ernte.


Zur Rückkehr gehört auch die apostolische Armut. Lukas 10 beschreibt die Aussendung der 70 Apostel auf Missionsreise zu den Heiden. Ihre Ausrüstung ist armütig. Keinen Stock dürfen sie mitführen, keinen Proviantbeutel, keine Geldkatze, keine Schuhe. Wanderprediger ist ein mühseliger Beruf, den nur die Berufung erträglich macht. Diese apostolische Armut, verkörpert durch den Ketzer Petrus Waldes oder den heiligen Franziskus, die beide ihr Vermögen verschenkten, ist das Gegenteil des prassenden Klerus, der sich in Seide kleidet. So hat die Häresie auch immer einen revolutionären Anstrich, das Volk rebelliert gegen die herrschende Klasse, den Adel.


Das kommt im Buch nur am Rande zur Sprache, denn Malcolm Lambert «einer der hervorragenden Spezialisten für das mittelalterliche religiöse Denken» behandelt eben dieses. Da verstehe ich, wer das Buch gähnend aus der Hand legt. Ich las es auch nur noch aus Pflichtgefühl zu Ende. Ich habe mir bei Zuklappen überlegt: Was ist heute das Gegenteil der apostolischen Armut? Erraten, der Konsumismus! Ein Ketzer ist heutzutage, wer den Verzicht predigt. Ein Häretiker, wer verkündet: Du sollst nicht fliegen. Du sollst kein Fleisch essen. Du sollst nichts wegwerfen. Die Orthodoxie des ständigen Wachstums wird heute von den Abtrünnigen des Inne- und Masshaltens herausgefordert. Wann werden die ersten der neuen Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt? Eingesperrt hat die Justiz die ersten Aufmüpfigen ja bereits. Wer grün wählt, ist abtrünnig. Die Strassenkleber sind die Husiten der Gegenwart. Noch sind sie zahm und gewaltlos. Doch das Buch erinnert an die Husitenkriege von 1420 bis 1436, die mörderisch waren. Das Ziel der Gegner war die Ausrottung der Husiten, was ihnen mit Mühe gelang. Wer will die neuen Husiten, die neue apostolische Armut ausrotten? Steht die Inquisition, pardon, die Rechtspflege schon bereit?

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