Katrin Pfäffli: «Wir müssen wieder lernen, in Bedürfnissen zu denken.»

«Mit dem CO2-Budget wagen wir die Flucht nach vorn»

Katrin Pfäffli und Claudio Meletta von der Laborgruppe «Klimakrise und Wettbewerb» sind überzeugt: Was wir heute in Programme schreiben, entscheidet über Netto Null.

Euer Vorschlag will den Wettbewerb auf die Klimakrise ausrichten. Warum?
Claudio Meletta: Die Klimakrise ist eine der grössten gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart. Das Bauen spielt dabei eine entscheidende Rolle. Je früher wir die Weichen eines Bauprojekts richtig stellen, desto grösser ist unser Einfluss auf die Klimafreundlichkeit. Der Wettbewerb ist ein Instrument dazu.

Hat sich seit dem Wettbewerbslabor im vergangenen Dezember jemand gemeldet, der euren Vorschlag ausprobieren möchte?
Katrin Pfäffli: Nein, die Diskussion, die wir am Wettbewerbslabor geführt haben, hatte bislang keine Auswirkungen – weder auf die Wettbewerbe, die auf meinem Tisch landen, noch hat sich jemand gemeldet.
Claudio Meletta: Wir waren überrascht, auf wie viel Widerstand und Kritik unser Vorschlag gestossen ist. Das war ernüchternd. Es gab aber auch viel Interesse und Zustimmung von jenen, die verstanden haben, was durch die Klimakrise auf dem Spiel steht. Wir haben Lust, weiterzuarbeiten und den Vorschlag zu konkretisieren.

Statt eines Raumprogramms und eines Pflichtenhefts schlagt ihr ein CO2-Budget und ein Anforderungsprofil vor. Das klang für viele zu abstrakt.
Claudio Meletta: Ein CO2-Budget ist etwas extrem Konkretes. Für jede Handlung und für jedes Bauteil gibt es Methoden und Werkzeuge, um den CO2-Verbrauch zu berechnen. Viele sind sich das einfach nicht gewohnt und bezeichnen den Vorschlag deshalb als abstrakt. Das ist falsch.
Katrin Pfäffli: Dass es in einem Wettbewerb ein Budget gibt, sind wir uns gewohnt. Dieses wird üblicherweise in Franken angegeben. Ein CO2-Budget ist genau dasselbe, nur in einer anderen Einheit. In Wettbewerbsprogrammen gibt es ganz andere abstrakte Forderungen, unter denen sich niemand etwas vorstellen kann und die sich nicht einmal vorprüfen lassen – etwa, dass ein Projekt den Goldstandard eines Labels erreichen soll. Mit dem CO2-Budget wagen wir die Flucht nach vorn.

«Wir möchten den Wettbewerb vorverschieben.»
Claudio Meletta

«Anforderungsprofil» klingt aber schon abstrakt.
Katrin Pfäffli (lacht): Ja, das ist der abstraktere Teil des Vorschlags.
Claudio Meletta: Trotzdem: Wir erachten es als legitim, infrage zu stellen, was eine Wettbewerbsaufgabe definieren muss und was sie offenlassen kann. Aktuell sind die Bestellungen in Wettbewerben meist zu fixiert, um wirklich klimafreundlich bauen zu können. Das Anforderungsprofil soll dazu motivieren, lediglich das Minimum an sinnvollen Vorgaben zu machen. Was ein solches Anforderungsprofil genau umfasst, ist von Fall zu Fall zu klären.
Katrin Pfäffli: Ich sagte am Wettbewerbslabor, dass wir alle Pflichtenhefte wegwerfen sollten. So einfach ist es natürlich nicht. Im Wohnungsbau beispielsweise braucht es aber kein Raumprogramm, sondern lediglich einen Beschrieb des gewünschten Projekts: Wie viele Menschen sollen auf der Parzelle wohnen? Wie gestaltet sich ihr Zusammenleben? Das reicht, um mit dem CO2-Budget ein Projekt zu entwickeln. Wir müssen wieder lernen, in Bedürfnissen zu denken. Das gilt auch für komplexere Wettbewerbsaufgaben, bei denen wir auf das Wissen der Nutzer*innen angewiesen sind und zwingende Vorgaben sinnvoll scheinen. Bei einer Feuerwache etwa.
Claudio Meletta: Gerade für den Wohnungsbau ist unser Vorschlag interessant, weil für ihn viele Wettbewerbe ausgeschrieben werden und er im Hinblick auf das Erreichen der Klimaziele eine grosse manövrierbare Masse darstellt.

Die Übersetzung der Anforderungen in ein Raumprogramm liegt dann bei den Teilnehmer*innen. Warum sollten sie das besser können als die Bauherrschaft oder die Verfahrensbegleiter*innen?
Katrin Pfäffli: Die Teilnehmer*innen können das nicht besser. Aber es sind mehr Köpfe mit verschiedeneren Hintergründen, die frech und frei an der Aufgabe mitdenken. Der Vorschlag will das verhindern, was leider oft passiert: dass man bestellt, was man kennt, und zwar so, wie man es schon immer getan hat.
Claudio Meletta: Die frühe Aktivierung der Schwarmintelligenz und die gemeinsame Arbeit an der Aufgabe – und nicht nur an der Lösung – führt zu grundlegend anderen Resultaten. Das ist die versteckte Idee unseres Vorschlags. Wir möchten den Wettbewerb vorverschieben.
Katrin Pfäffli: Und früher aufhören. Am Ende des Wettbewerbs steht kein fertiges Projekt, sondern eine Architektur, die in den Grundentscheiden richtig auf die Klimakrise reagiert.

Das verschiebt die Prioritäten des Wettbewerbs.
Katrin Pfäffli: Genau darin liegt der Kern unseres Vorschlags. Wir ordnen das, was wir bauen wollen, der Klimakrise unter. Heute läuft es leider andersrum: Von den Vorschlägen, die wir im Wettbewerb erhalten, wählen wir am Ende einfach die Lösung mit den geringsten Treibhausgasemissionen aus. Und sagen dann: Dieses Projekt schneidet bezüglich ökologischer Nachhaltigkeit am besten ab. Diese Denkweise müssen wir umdrehen und viel grundsätzlicher fragen: Was haben wir – für eine bestimmte Aufgabe an einem bestimmten Ort – überhaupt noch zur Verfügung

«Wir müssen das vorhandene Wissen bis auf den letzten Tropfen ausquetschen.»
Katrin Pfäffli

Das klingt überzeugend. Wie erklärt ihr euch den Widerstand, auf den ihr am Wettbewerbslabor gestossen seid?
Claudio Meletta: Es gab jene, die im Wettbewerb, so wie er heute ist, ein heiliges Gut sehen und eine generelle Angst vor Veränderung zum Ausdruck brachten. Es gab jene, die einen Verlust der Privilegien befürchten, die über Wettbewerbe viele Projekte akquirieren und sich neue Kompetenzen aneignen müssten. Und dann gab es legitime Fragen. Zum Beispiel: Verursacht der Vorschlag nicht noch mehr Aufwand? Oder: Ist er mit gewissen Aufgaben gar nicht umsetzbar?
Katrin Pfäffli: Auch Rollenängste gab es. Die Architekt*innen nahmen den Vorschlag am besten auf. Bei den Bauherrschaften und den Verfahrensbegleiter*innen hat er mehr Fragen aufgeworfen. Sie konnten sich weniger gut vorstellen, wie ihre Arbeit in Zukunft aussehen würde. An all dem müssen wir arbeiten.
Claudio Meletta: Die Bauherrschaften äusserten ausserdem die Befürchtung, Planungssicherheit einzubüssen. Aus unserer Sicht ist diese aber schon heute eine vermeintliche. Egal wie fertig ein Projekt in einem Wettbewerb scheint, es wird sowieso überarbeitet. Dementsprechend sorglos können wir uns auf Experimente einlassen.

Wie überzeugt ihr eine Bauherrschaft, das Experiment zu wagen und euren Verfahrensvorschlag auszuprobieren?
Claudio Meletta: Das Verfahren verspricht eine hohe Ideenvielfalt – trotz oder gerade wegen des strikten Budgets. Dieser Reichtum an Ideen fehlt in herkömmlichen Verfahren mehr und mehr. Ausserdem lässt sich unser Vorschlag innerhalb der geltenden Wettbewerbsordnung durchführen. Nur die Ausgangslage ist radikal anders.
Katrin Pfäffli: Die Klimafreundlichkeit ihrer Vorhaben treibt viele Bauherrschaften ohnehin um. Es kann befreiend sein, dafür einen neuen Weg zu gehen. Dieser Weg verspricht auch Aufmerksamkeit: Wer ihn zuerst beschreitet, macht sich einen Namen. Und ich bin überzeugt: CO2 einsparen heisst Kosten einsparen.
Claudio Meletta: Mit dieser Einschätzung bin ich nur teilweise einverstanden. Gerade in der Konstruktion ist es oft ein Abwägen zwischen Kosten und CO2-Verbrauch. Auch wenn das doppelte Sparpotenzial für die grundsätzlichen Entscheidungen stimmt. Suffizient zu denken, keine Untergeschosse zu bauen, Bauen oder Nicht-Bauen ganz generell gegeneinander abzuwägen und Strategien für einen intelligenten Bestandserhalt zu suchen: Das alles ist nicht nur für die Architektur und den Wettbewerb mit CO2-Budget, sondern auch ökonomisch interessant.

Und wenn niemand euren Vorschlag ausprobieren will?
Katrin Pfäffli: Dann führen wir einen Guerillawettbewerb durch.

Ich wäre dabei. Wir könnten einen Wettbewerb spiegeln, der ohnehin stattfindet.
Claudio Meletta: Das Gute daran wäre die direkte Vergleichbarkeit: Welche Architekturen bringt ein herkömmliches Verfahren hervor, und welche schafft unser Vorschlag? Diese Fragestellung wäre für eine öffentliche Bauherrschaft interessant, insbesondere für Kantone und Gemeinden, die den Klimanotstand ausgerufen haben.

Wie würde die Jurierung ablaufen?
Katrin Pfäffli: Ziemlich identisch. Es gibt eine Vorprüfung. Die Jury weiss, wo die CO2-Kostenpunkte liegen. Sie weiss: Dieses Projekt hält das CO2-Budget ein – grüner Punkt. Und dieses Projekt nicht – roter Punkt. Das CO2 wird zum Ausschlusskriterium, genau wie ein Baurechtsverstoss.
Claudio Meletta: Ich wünsche mir eine lernende Jury. Es wird anfangs ungewohnt sein, etwas zu bewerten, das nicht fertig ist, sondern sich auf der Ebene einer Strategie bewegt.
Katrin Pfäffli: Rein strategisch kann und wird es aber auch nicht sein. Um den CO2-Verbrauch zu berechnen, brauche ich die Bauteilflächen. Dafür reicht es, die städtebauliche Ebene und die Konstruktionsprinzipien zu kennen. Nicht jedes Detail muss gelöst sein.

Wo stösst euer Vorschlag an Grenzen? Was kann er nicht leisten?
Katrin Pfäffli: Das spielt keine Rolle. Wenn wir der Klimakrise entgegentreten wollen, müssen wir das Bauen grundlegend verändern, und zwar auf allen Kanälen. Der Wettbewerb ist einer davon. Und ein entscheidender: Was wir heute in die Wettbewerbsprogramme schreiben, wird in fünf Jahren gebaut – dann sollten wir bei Netto Null sein. Über Netto Null entscheiden wir also heute.
Claudio Meletta: Wenn wir jetzt ein CO2-Budget ins Programm schreiben, müssen alle, die mitmachen, damit arbeiten. Das geht ans Eingemachte. Entweder du bekommst den Auftrag oder du bekommst ihn nicht.
Katrin Pfäffli (leiser, nach einigem Nachdenken): Klar müsste man den Wettbewerb noch mehr öffnen, als es unser Vorschlag zulässt. Jemand müsste sagen können: Ich habe eine andere Lösung gefunden, ich baue nicht – und der gewinnt.

Was müssen wir am Wettbewerbslabor ändern?
Katrin Pfäffli: Trotz der Workshops war das Wettbewerbslabor insgesamt zu frontal organisiert. Es braucht mehr Zeit für die Zusammenarbeit. Im Laborraum war eine unglaubliche Menge an Wissen, Fachkompetenz und Erfahrung versammelt, doch wir konnten zu wenig davon herausziehen. Wir müssen das vorhandene Wissen bis auf den letzten Tropfen ausquetschen, sonst erreichen wir die Klimaziele nicht. Und wir müssen alle Beteiligten im Boot behalten, sonst passiert ebenfalls nichts.
Claudio Meletta: Das Labor darf im Aufbau radikaler werden: alles weglassen, was klar ist. Dass der Wettbewerb gute Architektur hervorbringen kann, wissen wir. Für ein Labor ist das nicht interessant. Die Vorschläge der Arbeitsgruppen und die Diskussionen sollten im Zentrum stehen.

 

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