Man spürt beim Lesen die Atemzüge eines gewöhnlichen Werktags, die die Menschen in den Wartsaal blasen und absaugen, schreibt der Stadtwanderer.

Der Reichtum der Langeweile

Einen Tag lang sass Bernadette Fülscher im Bahnhof Biel im schönsten Wartsaal der Schweiz. Entstanden ist ein literarisches Porträt eines Raums, eines Malers, einer Bilderfolge und eines Alltags.

Im dritten Bahnhof Biels, er wurde zweimal gezügelt, gibt es ein Schmucktruckli. Der Wartsaal von 1923 ist ein fast quadratischer, hoher Raum, dessen vier Wände mit riesigen Bildern des Malers Philippe Robert (1881-1930) geschmückt sind. Robert stammte aus einer Künstlerdynastie mit sechs Malern in drei Generationen. Er studierte zuerst Theologie, wandte sich dann der Kunst zu, blieb aber tiefreligiös, was man seinen Bildern auch ansieht. Fragt man mich, welcher Stil, so murmle ich Symbolismus, meine aber gehobenen, gebildeten, protestantischen Kitsch. Trotzdem, es gibt keinen schöneren, edleren, gehaltvolleren, erhebenderen Wartsaal in der Schweiz als den von Biel. Statt den üblichen touristischen Themen wie Matterhorn, Lago di Lugano und Eigermönchundjungfrau, sehen wir «Der Stundentanz», «Die Lebensstufen», «Die Jahreszeiten» und «Zeit und Ewigkeit». Das verbindende Thema ist die Zeit, dargestellt als Tageslauf, als Lebensgang, als die Jahreszeiten und den Blick in die Ewigkeit. Wer eintritt, flüstert, denn es ist alles so feierlich.


Die Architektin Bernadette Fülscher hat ein literarisches Porträt des Wartsaals geschrieben. Sie hielt sich an die Einheit der Zeit des klassischen Theaters, alles muss an einem Tag geschehen. So setzte sie sich in den Wartsaal und beobachtete von Morgen um sechs bis neun Uhr abends was hier geschieht. Eine «tentative d’épuisement» nannte das der geduldige Beobachter Georges Perec, den Fülscher als Auftakt ihres Buches zitiert. Sie sitzt und schaut und lauscht. Sie schreibt sich auf wer hineinkommt, was die Leute im Wartsaal treiben, wie sie angezogen sind, wie alt, ob Frau oder Mann, wer gehört zu wem? Sie wird Zeugin von Telefongesprächen, hört ihr unverständliche Sprachen, vernimmt eine Lebensgeschichte, vor allem merkt sie, wie die Zeit zerrinnt. Geduld muss haben, wer in den Zeitfluss steigt.  


Wie sie so sitzt, sieht sie sich auch die Bilder an, hat Musse, sie genau zu betrachten und findet, was sie zuvor darüber gelesen hat. Sie sucht die Bilder mit den Augen ab, entdeckt die Details, reflektiert ihre Bedeutung. Robert hat viel Symbolisches hineingemalt, religiöse Anspielungen ebenso. Sie erzählt auch die Entstehungsgeschichte der Bilder und zeichnet ein Porträt des Malers Philippe Robert. Selbstverständlich hat sie die Quellen studiert, sie sitzt nicht naiv im Wartsaal, sondern wissend. Das Literaturverzeichnis im Anhang, beweist ihre Belesenheit.


Das Buch ist ein Fliessen. Die Zeit vergeht. Die Leute im Wartsaal wechseln. Man spürt beim Lesen die Atemzüge eines gewöhnlichen Werktags, die die Menschen in den Wartsaal blasen und absaugen. Wer für das Selbstverständlichste, Allgemeinste, Belangloseste weder Ohr noch Auge hat, würde sagen: Es geschieht nichts. Fülscher, wach und aufgeweckt hingegen, seziert den wahren Seinszustand des Wartsaals, die Langeweile.

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