Passerelle über die Gleise mit der langen Sitzbank zwischen den Liften. Fotos: Matthieu Gafsou
In Zusammenarbeit mit Fussverkehr Schweiz

Flâneur d'Or: Der Blaue Himmel von Renens

Die Fussverkehrsbrücke ‹Rayon Vert› in Renens verbindet die beiden Seiten des Bahnhofs und ist ein identitätsstiftendes Zeichen für die Region. Sie gewinnt den diesjährigen Fussverkehrspreis Flâneur d'Or.

Obendrüber oder untendurch? Die Aussage des Wettbewerbsprogramms von 2007 war klar: Eine zweite Unterführung solle die Perrons und die beiden Seiten des Bahnhofs miteinander verbinden. Das sei praktischer, weil die Reisenden und die Passantinnen so weniger Höhenmeter überwinden müssten als bei einer Passerelle über den Gleisen. Die Wettbewerbsteams hielten sich denn auch an diese Empfehlung – bis auf eines: das Team ‹Rayon Vert› mit dem Architekturbüro Farra Zoumboulakis & Associés, dem Ingenieurbüro Ingeni, dem Landschaftsarchitekturbüro L’Atelier du Paysage und der Projektmanagementfirma Tekhne. «Wir hatten die Idee, eine Brücke als öffentlichen Raum, eine Art Belvédère über den Gleisen, zu gestalten», sagt Architekt Emmanuel Colomb und beschreibt ein Bild von «zwei Ufern des eisernen Flusses». Schon vor Jahrzehnten gab es bereits einmal eine Passerelle, wie alte Postkarten zeigen.

Blick über den Bahnhof und die Baustelle für die 2026 in Betrieb gehende Tramhaltestelle.

Die Verhältnisse vor Ort sind kompliziert: Wer in Renens aus dem Bahnhof tritt und 50 Schritte geht, befindet sich schon in Chavannes-près-Renens, und 200 Meter weiter fängt bereits Ecublens an. Im Westen Lausannes ist die Agglomeration so dicht verwachsen wie sonst nur an wenigen Orten im Land. Vor 20 Jahren entstand das Bureau du Schéma directeur de l’Ouest lausannois (SDOL) mit dem Ziel, die Entwicklung in den Gemeinden um Renens herum zu koordinieren. Seit 2008 bilden acht Gemeinden den neuen ‹District de l’Ouest lausannois› mit Renens als Hauptort, 2011 erhielten sie den Wakker-Preis. 2016 unterzeichneten die Gemeinden eine Vereinbarung, um die Entwicklung zu koordinieren, und gaben dem Akronym SDOL eine neue Bedeutung: ‹Stratégie et développement de l’Ouest lausannois›.

Situationsplan

Wahrzeichen des Wandels
Weil sich die Dynamik von Bahnhöfen nicht an Gemeindegrenzen hält, hat sich seit dem Bau der Eisenbahn 1855 am Bahnhof ein Siedlungskern entwickelt, der in den letzten Jahrzehnten stetig gewachsen ist. Der Ort, der dem Bahnhof Renens den Namen gab, liegt hauptsächlich auf der anderen Seite der Gleise – quasi auf der Rückseite. Die Verbindung zum Bahnhof bestand bislang einzig aus einer Unterführung. Bis vor wenigen Jahren hätte der Bahnhof Renens die ideale Kulisse für einen Historienfilm aus der Dampflokzeit abgegeben. Heute ist er eine Verkehrsdrehscheibe mit rund 30 000 Reisenden pro Tag, auf die wohl manche vergleichbaren Orte neidvoll blicken. In Renens treffen Interregio- und S-Bahn-Züge, die Métro M1 und zahlreiche Busse aufeinander. In Zukunft sollen hier vermehrt auch Intercity-Züge halten, und ab 2026 hat auf der Nordseite der Gleise die neue Tramlinie, die von Lausanne hierherführt, ihre Endstation. Das Wahrzeichen dieses Wandels liegt quer über den Gleisen: die Passerelle ‹Rayon Vert›, der grüne Strahl. Der Ausbau des Bahnhofs und die neue Querverbindung sind denn auch eines der Hauptprojekte des Programms ‹Léman 2030› für den Ausbau der Eisenbahninfrastruktur entlang des Genfersees.

Metrostation und Liftaufgang zur Passerelle.

Auf einer Verkehrsdrehscheibe hat die schnellstmögliche Verbindung von A nach B oberste Priorität – die Reisenden sollen keine Zeit verlieren. Doch in Renens übertrug das Wettbewerbsteam der Fussgängerverbindung zu Recht eine weitere Aufgabe: die Plätze beidseits des Bahnhofs aufzuwerten und sichtbar zueinander in Beziehung zu setzen. Wenn man vom ‹Rayon Vert› spricht, ist damit denn auch nicht nur die Fussgängerbrücke gemeint, sondern auch die Place de la Gare beim Bahnhofsgebäude und die Place du Terminus diesseits der Geleise. Helle Blättermotive sind in den Asphalt eingelassen: grosse an den Einfahrten zur Begegnungszone, kleine in Streifen auf den Platzflächen und mittelgrosse im Randbereich der Passerelle. So werden die einzelnen Teile zu einem Ganzen zusammengebunden.

Schutzdächer, Bäume und Sitzbänke bieten viel Aufenthaltsqualität.

An der Place de la Gare ist der Auftritt der neuen Fusswegverbindung fulminant: Eine breite, von einem hoch aufragenden Dach überdeckte Treppe führt auf ein breites Zwischenpodest, das den grossen Höhenunterschied überspielt; eine Rolltreppe und ein Lift helfen beim Aufstieg. Ist man oben angekommen, überrascht die Passerelle durch ihre Breite und ihre differenzierte Gestaltung. Der westliche Bereich, wo die Treppen der Bahnhofsperrons andocken, ist eine Durchgangszone, in der zur Stosszeit hektischer Betrieb herrscht. Der östliche Abschnitt der Passerelle gleicht eher einem langgezogenen städtischen Platz und ist gekennzeichnet durch die hellen Blättereinlagen im Boden. Eine lange, von den Liften rhythmisierte Bank lädt zum Sitzen ein. Die dem ‹Rayon Vert› seinen Namen gebende Bepflanzung umfasst 25 Bäume auf den zwei Plätzen, Kletterpflanzen bei den Aufgängen und den Efeu, der sich über den 150 Meter langen Rücken der Passerelle erstreckt. Über allem liegt als heller blauer Himmel ein Dach aus Polycarbonatplatten. Auf der Gleis-Nordseite führt eine lange Rampe auf die Place du Terminus. Mit einer Neigung von zehn Prozent ist die lange Rampe relativ steil. Der Übergang von der horizontalen Passerellenkante zur schrägen Trottoirkante führt zu einem spürbaren Quergefälle. Hier zeigen sich die Tücken des Bauens im dichten Siedlungsgebiet.

Rampe bei der Place du Terminus.

Die grüne Efeuwand, die die beiden baumbestandenen Plätze miteinander verbindet, gehörte von Anfang an zum Projekt. Es war dem Planungsteam ein wichtiges Anliegen, dass Konstruktion und Vegetation eins sind. Also entwickelten Architektinnen und Ingenieure ein Fachwerk, das den starren Rahmen eines üblichen Gitterträgers sprengt. Sie fassten die Druckkräfte in Y-förmigen Stäben zusammen und leiteten die Zugkräfte in filigrane, im Querschnitt H-förmige Stäbe. So entstand ein Tragwerk, das in seinem Ausdruck an ein Geflecht von Ästen erinnert und so mit dem Efeu eins wird. Gleichzeitig spart diese differenzierte Ausgestaltung im Vergleich zu einer normalen Fachwerkkonstruktion rund 20 Prozent Stahl.

Querschnitt und Ansicht der Passerelle im Detail.

Architekt Emmanuel Colomb weist auf eine weitere Besonderheit des Bauwerks hin: Es gibt keine Dilatationsfuge – auch das ein Ergebnis der engen Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen. Weil die Konstruktion so über ihre ganze Länge statisch wirksam ist, konnten die einzelnen Profile noch schlanker ausgebildet werden.

Die  Jury sagt
Die Passerelle ist nicht nur ein Übergang, sie ist das Herzstück einer neuen Verkehrsdrehscheibe: Die Reisenden werden zu Fussgängerinnen und Fussgängern, die ihrer Wege gehen – oder das Verkehrsmittel wechseln. Bahnhöfe sind also eigentliche ‹Fussgängerhöfe›. Entsprechend grosszügig ist nicht nur die Passerelle dimensioniert, sondern auch die Bahnhofsanlage insgesamt. Das Ganze ist einheitlich gestaltet und auf die Bedürfnisse der zu Fuss gehenden Menschen abgestimmt. Die Passerelle besticht durch ihre Weite und Leichtigkeit. Ein hellblaues Dach beschattet den Weg über die Gleise, schützt vor Regen und erzeugt eine freundliche Atmosphäre. Hier kann man, anders als in einer Unterführung, den Blick in die Ferne schweifen lassen. Es ist angenehm, über die Passerelle zu gehen, weil es Pflanztröge, aber keine kommerziellen Einrichtungen gibt. Manche Passagiere warten lieber auf dem ‹Rayon Vert› auf ihren Zug als auf dem Perron; die Sitzbänke sind gut belegt. Besonderes Augenmerk richteten die Planerinnen und Planer auf die beiden Enden der Passerelle: die Place de la Gare und die Place du Terminus. Beide sind sorgfältig als baumbestandene öffentliche Räume gestaltet. Am Bahnhofplatz führt eine grosszügige, überdachte Treppenlandschaft auf die Passerelle. Die Breite und die Zweiteilung des Rolltreppenaufgangs verwischen die grosse Höhe, die es zu überwinden gilt. Auf der anderen Seite führt eine Rampe sanft von der Passerelle auf den Boden. Treppen und Rolltreppen schliessen die Passerelle an die Perrons von SBB, Metro und Tram an; für Personen mit eingeschränkter Mobilität steht jeweils ein Lift zur Verfügung. Für Fussgängerinnen und Fussgänger ist es grundsätzlich angenehmer, Gleise oberirdisch zu überqueren: Mehr Licht und Luft, und der eigene Weg, auch ein möglicher Fluchtweg, ist besser im Blick. Allerdings müssen wegen der Züge und Fahrleitungen bei einer oberirdischen Passerelle mehr Höhenmeter überwunden werden als bei einer unterirdischen Passage. ‹Rayon Vert› löst diese Herausforderung auf elegante Art und könnte so zu einem Vorbild für andere Bahnhöfe werden.

Schlüsselbau im Grossprojekt
Mehr als 15 Jahre sind seit dem Wettbewerb vergangen, rund vier Jahre betrug die Bauzeit für die neuen Anlagen am Bahnhof Renens. Der ‹Rayon Vert› ist zwar ein Schlüsselobjekt, aber beileibe nicht das einzige Bauwerk. Im gleichen Zug – und vom gleichen Planungsteam angeleitet – wurde auch der Bahnhof umgebaut. Die Perrons wurden verlängert, verbreitert und mit neuen Dächern versehen. Ein grosszügiger Neubau ersetzt die alte Unterführung, und auf der Nordseite bereitete man die Haltestelle für das künftige Tram vor. So unterschiedlich alle diese Teile sind, sie gehören doch zu einem einzigen Projekt, das ein einziges Bewilligungsverfahren durchlaufen musste: das eisenbahnrechtliche Plangenehmigungsverfahren beim Bundesamt für Verkehr. Diese Bündelung verpflichtete die Beteiligten, am gleichen Strick zu ziehen. Immer wieder mussten sich die Akteure zur gemeinsamen Vision verpflichten, gleichzeitig aber auch eine grosse Flexibilität und Anpassungsfähigkeit bewahren, um auf die diversen Ansprüche reagieren zu können. Entstanden ist so ein Gesamtwerk aus einem Guss, im Rahmen dessen die Architekten selbst die Sitzbänke auf den SBB-Perrons – platzsparende Klappkonstruktionen – entwerfen konnten.

Die Passerelle und die Perrondächer sind aus einem Guss gestaltet.

Zurück auf dem ‹Rayon Vert›: An ihrer breitesten Stelle misst die Brücke 16 Meter. Platz genug also für Fussgängerinnen, die es eilig haben, aber auch für jene, die gemütlich schlendern. Vereinzelt gibt es zwar auch Velos, doch erlaubt sind die Zweiräder nicht. Die Veloorganisationen seien von Anfang an in den Planungsprozess einbezogen worden, betont Architekt Emmanuel Colomb. So gebe es beidseits der Fussgängerbrücke grosse Velostationen (die nördliche muss noch gebaut werden), und ausserdem werde als bevorzugte Veloroute eine Verbindung unter den Gleisen hindurch ausgebaut. Den Normen ist es laut Colomb zu verdanken, dass es auf der Passerelle keinen Kiosk oder andere kommerzielle Einrichtungen gibt: So gelte die Brücke als Ingenieurbauwerk. Befände sich auf ihr eine Verkaufsstelle, gälte sie als Gebäude, das ganz anderen Vorschriften unterworfen wäre. Dass es auch keine Werbeplakate gibt, sei den Gemeinden zu verdanken: Sie wollen in ihren öffentlichen Bauten keine Werbung.

Querschnitt der Perrons mit Ansicht der Passerelle.

Viel Sonnenschein also über dem Bahnhof Renens. Was könnte dies besser symbolisieren als der blaue Himmel, der sich über der Passerelle, aber auch über den Perrons aufspannt. Doch warum ist er auch bei Regenwetter blau? Langzeitversuche mit farblosen Platten hätten gezeigt, dass die Platten sich mit der Zeit leicht gelblich verfärbten, was unter den Dächern eine triste Stimmung erzeugen würde, erläutert Emmanuel Colomb. Die blaue Farbe – nötig war gerade mal ein Prozent Blauanteil – verhindere dies. Und als identitätsstiftendes Markenzeichen stärkt das Blau die gestalterische Kraft des ‹Rayon Vert› und des ganzen Bahnhofs.

Treppe von der Passerelle auf die Place de la Gare.

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