Nie zuvor hat mir ein Buch so den Atem abgedreht. Die nüchterne Sprache erzählt ein zähes Verenden, resümiert der Stadtwanderer.

Wie einen die Erschöpfung aussaugt

Loderer las «Ingenieur Andrées Luftfahrt». Ein Abenteuerbuch, das rasch zum hoffnungslosen Beschrieb eines Untergangs wurde. Nie zuvor hat ein Buch dem Stadtwanderer so den Atem abgedreht.

Von Spitzbergen zum Nordpol ist es weit, eisig und einsam, zu Fuss ein qualvolles Unternehmen. Kaum einer kommt zurück. Ist es da nicht einfacher und bequemer es mit einem Ballon zu versuchen? Quer hinüber vom Wind sich nach Alaska treiben lassen, das war der Plan des Oberingenieurs im schwedischen Patentamt Salomon August Andrée, ein Luftfahrtheld und Schwedens Hoffnung. Er wird, als erster Mensch am Nordpol, Fridtjof Nansen, den Norweger, von seinem Denkmal stürzen, auf dem der steht, seit er vor kurzem Grönland auf Skis durchquert hatte. Nansen zu übertreffen, ist das Ziel Andrées und seiner zwei Gefährten Knut Fraekel und Nils Strindberg. Sie heben am 11. Juli 1897 ab, 33 Stunden später liegt der Ballon flugunfähig auf dem Packeis, darauf quälen sich die Drei zu Fuss nach Süden, am 15. Oktober sind sie alle tot. Die Erschöpfung sog sie aus, sie starben ausgemergelt, mager, leer.


Das ist die Geschichte. Fraekel erzählt sie beobachtend in einem ruhigen, sachlichen Ton, schliesslich ist auch er ein Ingenieur, keine Sentimentalitäten! Er sieht klar, weiss vom Start weg, dass der Ballon in den Untergang fliegt. Die verhängnisvolle Fahrt wird ohne Pathos, ohne Klage, ohne Wut, ohne Vorwurf in der ersten Person Einzahl erzählt. Es ist so, mehr nicht. Der Fallhöhe zwischen dem zähen Leiden und der genauen Sprache, das ist die Stärke des Autors Per Olof Sundman. Ein niederschmetternder Text.


Die drei Männer sind verurteilt. Ich habe noch nie ein Buch gelesen, dass mir so die Luft abdrückte. Jeder Schritt ist einer in den Tod. Ich musste innehalten beim Lesen, es war zu beklemmend. Jeder der Drei weiss, wir sind gerichtet, doch sie ziehen vier Monate lang ihre Schlitten über das Eis, überqueren offene Wasserrinnen, erlegen Eisbären und Robben, sehen die Vorräte schwinden, stolpern vorwärts in nassen Kleidern, die Hoffnung ist wie ihre letzte Talgkerze, sie erlischt. Ich sah dem Untergang zu und musste das Buch aus der Hand legen, Verschnaufpause vom Leidensdruck.


Es ist nicht Mitleid, was mich drückte, nein, es ist das unentrinnbare Los, das mich schüttelte. Der langsame Tod ist ihnen geordnet, langsam zerreibt sie das Schicksal. Es gibt kein Entrinnen, das wissen die Drei. Sie stapfen trotzdem weiter, weiter in das sichere Verderben. Sie kommen mühsam voran. Drei Kilometer in zwölf Stunden. Und während sie nach Süden wollen, treibt das Packeis sie nach Osten. Viel schneller als ihr quälendes Vorankommen. Die Drift ist die höhere Gewalt, der sie ausgeliefert sind. Das mitzuerleben macht die Kehle trocken.

   
Weiss, alles ist weiss, weiss in verschiedenen Farben. Der Wind bläst. Eisig. Kein Schutz, keine Höhle, keine Deckung, nur das Eis. Es ist nicht flach, nein, es ist von Wällen, Spalten durchfurcht, die zu überklettern ist kraftraubend. Über Süsswassertümpeln bricht es ein, die Männer werden nass bei null Grad Celsius. Sie haben nur ein Zelt, das sie mit dem Spirituskocher heizen. Wie viel Spiritus ins noch da?


Dabei hat alles so hoffnungsvoll begonnen. Fraekel reist nach Paris, das Ballonfahren zu erlernen. Ganz Schweden unterstützt die Expedition, König Oscar II., Alfred Nobel, der Geld- und Briefadel, die patriotische Begeisterung, alle sind dabei. Die Idee zu fliegen, statt zu marschieren überzeugt. Wer Bedenken äussert, ist ein schlechter Schwede. Trotzdem ist von Anfang an der Wurm drin. Der Ballon ist nagelneu, Probefahrten gab es keine, seine Lenkbarkeit ist nicht bewiesen. Der Jungfernflug ist gleich die Probe aufs Exempel, die schon beim Start misslingt. Fraekel wird im Eis, kurz vor seinem Tod, die Fehler zusammenzählen, nüchtern, aviatisch, schonungslos. Andrée gibt die Fehler zu. Beide sind sie Ingenieure, die der Ursache und der Wirkung bei der Arbeit zusehen. Die Vereisung hat den Ballon aufs Packeis gedrückt, wo er wie ein nasser Sack verendete.
Bleibt die Frage: Warum muss der erste Mensch, der den Nordpol erreicht, ein Schwede sein? Wozu muss der Mensch zum Nordpol? Dort ist nichts, nur Eiswüste und überall Süden.


PS. «Im Ballon zum Nordpol» hiess das SJW-Heft Nr. 353, das ich als Schulbub las. Da war die Geschichte einer italienischen Ballonexpedition, die ebenfalls abverheite. Ich war damals tief beeindruckt vom Durchhaltewillen der Männer in der Eiswüste. So einer wollte ich werden. Jetzt, 70 Jahre später, las ich «Ingenieur Andrées Luftfahrt» und denke: Wie habe ich es vermieden, ruhmreich zu werden? Es gab keine Gelegenheit.

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