Nach einer theorie- und programmschweren Textladung holt der Architekt Laurent Guidetti die Leserin mit seinem Blick zurück vom 22. ins 21. Jahrhundert wieder ins Jetzt.

Plädoyer für eine nutzerorientierte Architektur

«Social Loft» ist mehr als eine Gebäudemonographie. Das Buch der Architekten Dreier Frenzel ist eine weitläufige Recherche zu neuen Wohnformen. Ausgangspunkt ist ihr Genfer «Écoquartier de la Jonction».

«Social Loft» heisst das Buch des Lausanner Architekturbüros Dreier Frenzel Architekten. Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen bildet das «Écoquartier de la Jonction» mit 330 Wohnungen in drei Wohnbauten, welche die beiden Bürogründer Yves Dreier und Eik Frenzel 2018 in Genf für unterschiedliche Genossenschaftsmodelle realisieren konnten. Das Buch ist keine klassische Gebäudemonographie eines Architekturbüros, sondern eine weitläufige Recherche zu neuen Wohnformen. Auftakt macht ein programmatischer Text zur «Kunst der (architektonischen) Spekulation», den die beiden Architekten selbst verfasst haben. In Anlehnung die die «Zwölf Gebote für Spekulanten» von Philip L. Carrett von 1930 formulieren sie zwölf Gebote für «spekulierenden Architekten». Es geht darin natürlich nicht um Bereicherung durch Immobilienhandel, sondern um Bereicherung der Gesellschaft durch kluges architektonisches Handeln. Konkret: um Gebäudestrukturen, die eine Vielzahl von Raumkonfigurationen möglich machen, um die Sparsamkeit der Ideen, um das Ermöglichen experimenteller Formen der Aneignung oder um die Rolle des Architekten als Vermittler im Kollektiv.
 
Zwölf thematische Beiträge bilden das theoretische Fundament dieser programmatischen Einleitung. Einen Blick zurück auf selbstverwaltete und gemeinnützige Genossenschaften, Baugruppen oder WGs aus dem endenden 19. und 20. Jahrhundert wirft die Architekturhistorikerin Irina Davidovici. Ein Plädoyer für eine neue Bauökonomie hat Andreas Hofer geschrieben: Der Direktor der IBA 2027 ist davon überzeugt, dass Re-use und Umnutzung deutlich an Popularität gewinnen werden, sobald Umweltaspekte bei der Baumaterialverwendung finanziell stärker gewichtet werden. Es gibt städtespezifische Blicke nach Berlin (Regula Lüscher, Sonja Curnier) und Paris (Charlotte Belval, Pierre Parquet, Julia Tournaire) oder eine detaillierte Auswahl guter Beispiele für neue Formen von Schwellen(räume).
 
Nach der geballten theoretischen und programmatischen Textladung holt Laurent Guidetti die Leserin mit seinem eleganten Blick zurück vom 22. ins 21. Jahrhundert wieder ins Jetzt. Am Grab seines Urgrossvaters liest der Lausanner Architekt diesem (und meint damit sich selbst und uns) die Leviten: Er hätte alles gehabt, um die Welt zu verändern, doch er hätte nur dabei geholfen sie zu versiegeln, zu domestizieren und in der industriellen Logik ihre Ressourcen bis auf den Grund abzubauen, wirft er ihm vor. Doch versöhnlich wie Guidetti ist, gibt er aus einer dystopischen Zukunft, dominiert von einer «Überlebensarchitektur», dem Leser konstruktive Tipps für den Umgang mit der Welt des 21. Jahrhunderts: 1. Weniger projektieren, mehr realisieren, 2. Weniger «Verrohrung- und Verkabelungssucht», 3. Weniger Stadt, 4. Mehr Wiederverwendung und 5. Mehr Bürgersinn und mehr gemeinsames Handel.
 
Den zweiten Teil des Buches bildet ein schöner Bilderbogen von Roman Keller aus dem Ecoquartier Jonction, der in Reportagefotos zeigt, was Dreier Frenzel unter angewandter «Social Loft» verstehen. Elegant, weil weniger träge als eine parallel laufende Sprachversion, ist auch der Umgang mit der Zweisprachigkeit: Alle Texte sind jeweils in der Muttersprache der Autoren im Buch publiziert, die Übersetzung findet man in einem einliegendem Booklet.

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