«Mich der Gang durch die 50 Jahre Buchverwurstung eher gelangweilt.», schreibt der Stadtwanderer.

Lynch revisited

Wie finde ich mich in einer Stadt zurecht? Indem ich davon eine ‹Mental Map› aufbaue. Kevin Lynch hat das um 1960 als einer der Ersten gemacht. Was ist daraus geworden? Eine Spurensuche.

Lynch war Pflichtstoff. Um 1975 haben wir alle «The Image of the City» gelesen. Darin beantwortet Kevin Lynch (1918-1984) die Frage: Wie orientiert sich der Mensch im Grossstadtdschungel? Er machte die Probe aufs Exempel und schaute nach. Er ging vom Vorhandenen aus, nicht von einer Theorie. Vor allem in der Stadt Boston liess er seine Mitarbeiter stadtwandern. Schaut Euch an, was da ist, sagte er zu seinen Leuten, zeichnet Stadtpläne, beschreibt, was ihr seht. Darüber hinaus befragte er die Bostonians, wie sie die Stadt erleben. Er liess sie Planskizzen machen, die er übereinanderlegte, um so ein allgemein gültiges Bild zu destillieren. Wie lässt sich eine Stadt beschreiben und in einen Plan fassen? Fünf Elemente bot der Lynchsche Werkzeugkasten an: Paths, Edges, Districts, Nodes und Landmarks, in der deutschen Übersetzung: Wege, Grenzlinien, Bereiche, Brennpunkte und Merkzeichen. Das Buch kam 1960 heraus und machte eine internationale Karriere.

51 Jahre später fragt sich Jörg Seifert, was von Lynch noch aktuell sei. Die Antwort findet er auf einem langen Weg durch die Wirkungsgeschichte. Er stöbert die Kommentare, Kritiken, Lobreden und Zweifel auf und wägt sie gegeneinander ab. Ich hab’s durchgehalten, aber mir fiel das Lesen schwer. Gewiss, da schreibt einer wissenschaftlich, sprich den Gegenstand von allen Seiten beleuchtend, doch hat mich der Gang durch die 50 Jahre Buchverwurstung eher gelangweilt. Das mögen Städtebauhistoriker als Pflichtstoff bewältigen, für den Stadtwanderer ist’s an akademischem Futter zu viel. Ein halb so dickes Buch hätte mir gereicht, 92 Seiten, statt 184. Auch die 845 Fussnoten habe ich nicht recht angesehen.

Immerhin habe ich das Stichwort «Mental Map» rekapituliert. Welche Bilder, Vorstellungen, Einzelheiten, Farben, Gerüche, Bewegungslinien haben wir in unserer Erinnerung gespeichert? Seifert referiert getreulich die Diskussionen zum Thema von Arnheim bis Wertheimer. Ich war in die Siebzigerjahre zurückversetzt. Genau mit diesen Fragen habe ich mich für meine Dissertation beschäftigt. Ich frischte auf. Die ‹Mental Map› steckt im Hirn. Sie ist ein Gemisch von Wahrnehmung, die zur Anschauung wird, von Erinnerungen, psychischem Erleben, kurz ein Produkt des Gebrauchs einer Stadt. Die ‹Mental Map› ist ein Innenbild.

Nochmals: Lynch, was bleibt? Einerseits wenig, denn obwohl Lynch sich als Stadtplaner verstand, sind «seine Vorschläge in der Praxis kaum implementiert worden». Alle haben die fünf Elemente aus seiner Werkzeugkiste in ihre Berichte geschrieben, angewandt hat sie kaum jemand. Andererseits ist Lynch einer der Väter einer partizipativen Planung, ihn interessierte, was die Leute wollen. Allerdings ist er kein Aktivist, wie seine Zeitgenössin Jane Jacobs, Lynch bleibt im akademischen Elfenbeinturm. Etwas irritiert hat mich seine Autobegeisterung, ihm war Fahren ein Genuss. Doch einer mit Jahrgang 1918 im mittleren Westen hat naturgesetzlich Benzin im Blut. Jörg Seifert entdeckt Lynch als einen der frühen Kritiker der Moderne, vor allem da er nicht von oben als Demiurg alles wusste und vor allem besser, nein er fragte, was die Leute wollen und vor allem fragte er die Leute. Was allerdings nicht heisst, Lynch hätte die Leute mitbestimmen lassen. Er hörte zu und wusste anschliessend, was nötig ist. Seifert drückt das in seinem akademischen Slang so aus: «Dabei wird Ästhetik hier nicht auf Grund von abstrakten Kriterien zur autonomen Entität erhoben, sondern vielmehr in den Dienst des Menschen gestellt: Ziel ist es, neben den emotional-sinnlichen Bereicherungen auch die alltagspraktischen Routinen des Lebens zu erleichtern.» Noch Fragen? Ad fontes, ich fand Seiferts abschliessenden Rat, das Original wieder zu lesen beherzigenswert. Read, appreciate and create!

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