Die Innenentwicklung ist ein seit 10 Jahren gelebter Paradigmenwechsel. Was das heisst, wissen Gemeindepräsidentinnen am besten. Bericht aus einer Gemeinde, die Stadt wird, und aus einer, die Dorf bleibt.
Den Anfang machten die beiden Städte Zürich und Winterthur. Dort begann vor 35 Jahren der Stadtumbau auf Industriebrachen. Haushälterische Nutzung des Bodens durch Flächenrecycling. Von den Akteuren wurde eine steile Lernkurve verlangt: Sie mussten Industriedenkmäler erhalten, Altlasten sanieren, Zwischennutzungen ermöglichen, Dialoge führen. Bald war allen Beteiligten klar: Innenentwicklung ist viel aufwendiger als das Planen und Bauen auf der grünen Wiese.
In den 2000er-Jahren sammelten erste Agglomerationsgemeinden Erfahrungen mit der «urbanen Transformation». Die Revision des Raumplanungsgesetzes und des kantonalen Richtplans brachte 2014 die raumplanerische Strategie der konsequenten Innenentwicklung schliesslich in alle Zürcher Gemeinden. Nach zehn Jahren ist es an der Zeit, vor Ort den Puls zu fühlen: Wie läuft es mit der Innenentwicklung?
Erste Station ist Embrach im Bezirk Bülach. Seit 1950 hat sich die Bevölkerung auf 10 200 Personen verfünffacht. Im Dorfzentrum sticht das Ortsbild von regionaler Bedeutung ins Auge, im Industriegebiet das 1973 eröffnete Zollfreilager Embraport. Die Nähe zum Flughafen macht sich bemerkbar. Gemäss der 80-20-Regel des Zürcher Richtplans darf Embrach weiterwachsen, es muss aber nicht.
Anders in Affoltern am Albis, das wachsen soll. Weiterwachsen – denn seit 1950 hat sich seine Bevölkerungszahl bis Ende 2023 auf 12 800 vervierfacht. Seit 2018 ist Affoltern eine Stadt und nennt sich nicht ohne Stolz «die Stadt am Albis». Viel näher als Zürich ist hier im Knonaueramt Zug, dessen Entwicklungsdruck über die Kantonsgrenze hinweg spürbar ist.
Embrach: Mehr Spielraum für Experimente!
«Die Bevölkerung setzt sich heute kritischer mit der Innenentwicklung auseinander als noch vor 10 Jahren.»
«Was ich an der Innenentwicklung schätze: Früher standen im Dorf mehrere vernachlässigte Bauten, im Lauf der vergangenen zehn Jahre ist in der ganzen Gemeinde vieles aufgefrischt, saniert und ersetzt worden. Unser Strassenbild hat sich positiv entwickelt. Heute sagen die Leute, Embrach sei eigentlich ganz schön. Wir merken, dass die Bevölkerung nachhaltiger und ökologischer leben möchte. Sie freut sich über die Blumenwiese auf dem Strassenkreisel oder über eine Rabatte im Dorf. Biodiversität steht hoch im Kurs. Die Bevölkerung will keine Zersiedelung, sie ist sich bewusst, dass Land wertvoll ist und man damit sparsam umgehen muss.
In den Wohnzonen wird viel ersetzt und sehr viel saniert. Zwei Wärmeverbünde wurden aufgebaut, und im Rahmen der Totalrevision der Bau- und Zonenordnung (BZO) haben wir für energetische Massnahmen bei Arealüberbauungen eine Erweiterung der Baumasse bis 15 Prozent gewährt, was sehr gut funktioniert. Innenentwicklung findet auch in den Gewerbe- und Industriezonen statt. Parzellen werden höher ausgenutzt, leere werden überbaut. Die Betriebe legen vermehrt Wert auf attraktive eigene Aufenthaltsbereiche wie Terrassen für die Mitarbeitenden. Das hat sicher mit dem Fachkräftemangel zu tun. Auch Beschattung und Begrünung sind ein Thema. Ganz generell haben die Anforderungen an Aussenräume zugenommen. Embrach hat in den Bau von Spielplätzen investiert. Mit der Sanierung des Gemeindehauses ist ein ‹Gartensitzplatz für alle› entstanden.
Bei privaten Gestaltungsplänen ist es uns ein Anliegen, einen Teil des Aussenraums öffentlich zugänglich zu machen. Gute Prozesse entstehen, wenn wir als Gemeinde eine klare Richtung entwickeln und dann mindestens einen Partner finden, mit dem wir uns hinsichtlich Zielsetzung treffen. Embrach ist ein langes Strassendorf. Die Landschaft ist nah, das Grün fliesst durch Tal und Dörfer. Meist hat es noch ein Bächlein, grüne und blaue Infrastruktur sind eng verwoben. Diese Werte wollen wir erhalten. Innenentwicklung erfordert auch das Weiterentwickeln der Landschaft. Daran arbeiten wir intensiv. Es geht um Übergänge und um den Siedlungsrand. Da die Landschaft nicht an der Gemeindegrenze aufhört, gehen wir das Thema überkommunal und mit dem Kanton an.
Das Flachdachverbot aufgehoben
Heute setzt sich die Bevölkerung kritischer mit der Innenentwicklung auseinander als noch vor zehn Jahren. Wenn auf einer Bauparzelle in der Kernzone Obstbäume gefällt werden, erhalten wir Reaktionen. Bei Gestaltungsplänen wird gefragt: Was ist der Gegenwert? Auch die Sensibilisierung für den Verkehr hat zugenommen. Wie ein Areal erschlossen wird, gibt in Gestaltungsplanverfahren immer zu reden. Mit der Verdichtung ist das Nebeneinander von Gewerbe und Wohnen in den Quartieren anspruchsvoller geworden. Oft sind die Parkplätze umstritten. Auch auf Baustellen reagieren die Leute sensibler, sie sorgen sich um die Sicherheit des Schulwegs wegen der teils aufwendigen Installationsplätze.
Mitwirkung ist uns wichtig. Aber man kann auch zu viel Partizipation anbieten, und dann wird sie kontraproduktiv. Wenn man immer nur abholt, bleibt man in der Diskussion an einem Punkt stehen. Das erzeugt Unzufriedenheit. Wir entscheiden uns darum bewusst für partizipative Verfahren und führen diese sorgfältig durch.
Detailliertere Regeln führen nicht immer zu besserer Qualität. Darum haben wir einige aus der BZO gestrichen, zum Beispiel das Verbot von Flachdächern. Andere dagegen mussten wir nach den ersten Erfahrungen mit der totalrevidierten BZO neu einführen. Damit etwa geregelt ist, wie tief ein Gebäude ins Erdreich gesetzt werden darf.
Nun werden verstärkt Projekte auf kleineren Parzellen geplant. Das stellt uns vor neue Herausforderungen. Ist es richtig, diese Kleinteiligkeit mit einem aufwendigen Gestaltungsplanverfahren anzupacken, oder ist hier wie bei der Arealüberbauung eine untere Grenze der Parzellengrösse nötig? Auch ein Gestaltungsplan ist kein Garant für gute Bauten. Grundsätzlich braucht es Offenheit für neue Lösungen, Pilotstudien, neue Verfahren. Kurzum: Spielraum für Experimente − das wäre auch meine Botschaft an den Kanton. Experimente sollen nicht immer nur in den Städten stattfinden. Was dort funktioniert, kann auf dem Land oder in der Agglo scheitern. Umgekehrt kann sich in einem Dorf etwas bewähren, das für die Stadt keine Relevanz hat, für das Dorf hingegen schon.
Über das Thema Dichte werden wir in Zukunft intensiv diskutieren müssen, intensiver als bis anhin. Wenn wir in Embrach mit der aktuellen BZO weiterplanen, haben wir das Verdichtungspotenzial in zehn Jahren ausgeschöpft. Allein aus diesem Grund müssen wir uns fragen: Haben wir ‹unsere Dichte› erreicht? Bauen wir noch dichter? Weiten wir die Bauzonen wieder aus?» Rebekka Bernhardsgrütter, Gemeindepräsidentin Embrach
Affoltern am Albis: Ein Dorf wird Stadt
«Wer neu hierherzieht, findet es cool, schätzt die gute Infrastruktur.»
«Der Blick aus dem dritten Stock des Stadthauses zeigt, dass in den letzten Jahren viel passiert ist. Wir werden vom Dorf zur Stadt. Die BZO sieht eine bauliche Verdichtung vor allem im Zentrum vor, rund um den Bahnhof und entlang der Bahnlinie. Momentan ist unser Eindruck, dass verstärkt kleinere Bauten abgerissen und der BZO entsprechend durch grössere Gebäude ersetzt werden.
Die Bevölkerung setzt sich mit diesen Veränderungen auseinander, das spüren wir. Affoltern war ein Dorf mit ‹Hüsli›. Wenn jetzt nach und nach gebaut wird, ergibt dies eine ganz andere Landschaft, ein urbanes Bild. Wer neu hierherzieht, findet das cool, schätzt die gute Infrastruktur. Aber wer im Bauerndorf gross geworden ist und im Ort alle kannte, nimmt die Veränderungen als Verlust wahr.
Bis sich etwas Gutes entwickelt, braucht es Unmengen Geduld. Gleich hinter dem Bahnhof liegt ein Einfamilienhausgebiet. Die Aufzonung der zweigeschossigen zu viergeschossigen Wohnzonen war enorm. Wir hatten darauf gehofft, diesen ‹Gap› mit einem Quartierplan aufzufangen, um eine qualitativ gute Entwicklung aufzugleisen. Uns war klar, dass die Grundeigentümer gemeinsam überlegen sollten, wie ihr Quartier künftig aussehen sollte, um eine ‹Baumusterzentrale› zu vermeiden. Aber wir stiessen auf pickelharten Widerstand. Niemand war zu diesem Verfahren bereit. Das hat uns gezeigt: Wir müssen die Eigentümerinnen darüber informieren, was es bedeutet, wenn ihr Grundstück aufgezont wird.
Wie gelingt uns die geforderte Qualität in der Innenentwicklung? Wie gelingen uns gute Aussenräume, in denen man sich gerne aufhält? Gemäss unseren Erfahrungen liegt da die grosse Herausforderung. Bei einem ersten Projekt zahlten wir Lehrgeld: Auf dem Plan wurde uns eine wunderschöne Gestaltung verkauft. In der Realität stehen nun kleine Bäume in Pflanztrögen auf dem Deckel der Tiefgarage. Wir mussten lernen, dass wir die Gestaltung der Aussenräume im Detail aushandeln und verbindlich absichern müssen. Seither halten wir bei den Investoren den Fuss in die Türe, nutzen die planungsrechtlichen Instrumente gezielt aus, schliessen städtebauliche Verträge ab und legen Baumschutzmassnahmen fest. Die bei der Revision des Planungs- und Baugesetzes abgelehnte Unterbauungsziffer wäre für uns als Gemeinde interessant gewesen, um Qualität einzufordern.
Keine weitere Aufzonung
Vor zehn Jahren hiess es noch, Wald und Natur seien nah und deshalb brauche es im Ort keine Aussenräume. Das hat sich mit dem Auftrag der Verdichtung massiv geändert. Man möchte sich auch direkt vor der Haustür wohlfühlen. Wir können in der Stadt Affoltern keinen ‹Central Park› bauen, aber es ist unser Ziel, die vorhandenen öffentlichen Räume aufzuwerten.
Wir möchten Pocket-Parks und kleine Flächen für mehr Biodiversität als Trittsteine für die Natur in der Stadt einfügen. Die Diskussion über die Schwammstadt spielt uns in die Karten. Bei Strassensanierungsprojekten prüfen wir nun konsequent, wo ein Pocket-Park realisiert, eine Sitzbank installiert, eine Fläche entsiegelt werden kann. Die Mitarbeitenden des Werkhofs haben sich begeistert an die Arbeit gemacht und denken sich auch Bepflanzungskonzepte für ganz kleine Flächen aus. Sie testen neue Samenmischungen, sodass sanierte Strassen im Frühling zur Pracht werden − zuerst wachsen Krokusse und Narzissen, später bunte Beete. Auf das haben wir viele erfreute Rückmeldungen aus der Bevölkerung erhalten. Es braucht dazu gar nicht viel – lediglich eine unversiegelte Fläche. Aber die Prozesse dauern, darum müssen wir jetzt vorsorgen. Bäume für morgen müssen wir heute pflanzen. So geschehen im neuen Stadtpark rund um den Brauiweiher am Übergang vom Zentrum zum Industriegebiet. Dort finden Naturschutz und Aufenthaltsqualität zusammen, auch für die Leute aus dem Industriequartier, die im Park ihre Mittagspause verbringen.
Auf kleinen Parzellen schlummert noch viel Verdichtungsspielraum. Einige Kleinstparzellen werden vermutlich nicht überbaut, doch das verträgt es in einer Stadt, es erhält Nischen. Wir haben uns in Affoltern grundsätzlich gegen weitere Aufzonungen ausgesprochen, um das Bevölkerungswachstum in der bisherigen Grössenordnung zu belassen. So kommen wir mit dem Ausbau der Infrastruktur hinterher. Punktuell können wir uns eine höhere Verdichtung vorstellen – unter der Voraussetzung hoher Qualität. So wie derzeit auf dem ZENA-Areal, wo Herzog & de Meuron rund 90 Wohnungen in Holzbauten planen. Solche Leuchttürme sollen andere Investoren motivieren, gemeinsam mit der Stadt Qualität zu schaffen, so haben wir es als Grundhaltung formuliert.
Bei allen Projekten, auf die wir Einfluss nehmen, fragen wir auch: Wie können wir den Verkehr vermindern, indem wir Anwohnerinnen des Bahnhofs zu einer umweltverträglicheren Mobilität bewegen? Wir möchten zur Stadt der kurzen Wege werden – es ist ein langsamer Prozess, aber wir stossen ihn an. Allein kommen wir als Stadt Affoltern beim Thema Verkehr aber nicht weit. Der obere Teil des Knonaueramts orientiert sich nach Zug, und von dort kommt der Wachstumsdruck. Diese Gemeinden haben ein lockeres Bauzonen-Gewand, das sie nun ausfüllen. Das kann man ihnen nicht verbieten, ausser man würde ihnen vorschreiben, auszuzonen. Die Lage verlangt eine Zusammenarbeit über die Kantonsgrenze hinweg, aber diese Idee ist vor allem in den Köpfen der Kantonalverwaltung noch nicht gefestigt.» Eveline Fenner, Stadtpräsidentin, und Markus Gasser, Stadtrat
Die 80-20-Regel
Die aktuellen Prognosen für den Kanton Zürich gehen davon aus, dass die Bevölkerung bis 2050 auf fast zwei Millionen Menschen wachsen wird. Um dieses Wachstum in Gebiete zu lenken, die bereits gut mit dem Verkehr erschlossen sind, enthalten der kantonale Richtplan und das Raumordnungskonzept die 80-20-Regel. Sie gibt vor, dass 80 Prozent des Bevölkerungswachstums in den städtischen Gebieten und nur 20 Prozent in den ländlichen Gebieten des Kantons aufgenommen werden sollen. Die 80-20- Regel will die Zersiedlung begrenzen, die Landschaft schonen und die Infrastruktur effizient ausnutzen.