Nicht Rom und seine Pracht, wie noch Piranesi glaubte, sind die ewigen Wurzeln und der unüberwindliche Höhepunkt aller Kunst, sondern die Griechen mit ihrer edlen Einfalt und stillen Grösse, schreibt der Stadtwanderer.

Et in Arcadia ego

Mit Goethe fuhr ich lesend nach Italien und fand das Land der Griechen. Was die italienische Reise nach 1788 auslöste, das ist im Buch «Heimreisen» nachzulesen.

«Deutsch war, wer Goethe las und sich nach Italien sehnte. Das zumindest ist die These dieses Buches.» Golo Maurer, Chef der Bibliotheca Hertziana nimmt mich auf eine literarische Reise mit, die mir wie ferne Bildungsmusik klang, auf die Italienreise Goethes von 1786 bis 1788. Das Buch kam mir zufällig in die Finger. Ich klappte es auf und begann irgendwo und hörte dann mit Lesen nicht mehr auf. So spannend war der alte Herr und seine Wirkung. Mein bildungsbürgerlicher Wissensstock tauchte aus der Tiefe der Erinnerung wieder auf. Es war wie wenn ich einen lang nicht gesehenen Schulfreund angetroffen hätte. Was erzählte er mir?


Zuerst die Geschichte vom «Leiden des Dr. Goethe», sein Versauern in Weimar. Er, das anerkannte Originalgenie seit «Werthers Leiden», musste ein eifriger Minister sein, der Dichter verkümmerte. Das half nur Abhauen. Heimlich und fahnenflüchtig fuhr er nach Rom. Mauer folgt ihm und ich erfahre, was er als unter der Tarnung «Maler Möller» in Rom und später in Neapel und Sizilien trieb. Mir leuchtete besonders ein, dass seine Exzellenz der Geheime Rat allein unterwegs war, will sagen, er war unabhängig und beweglich, ein Stadtwanderer halt. In 653 Tagen legte er etwa 5000 Kilometer zurück. Er korrespondierte eifrig mit Charlotte von Stein, seinem verratenen Arbeitgeber dem Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach und der zu Hause gebliebenen Fangemeinde. Briefe von zuweilen «beredter Sprachlosigkeit». Wie er dann wieder heimreist und wie er sich dort einrichtet, schliesst Goethes Reise ab.


Ihre Wirkung, das der zweite Teil des Buches, war atemberaubend. Wer von Stand und Bildung war musste sie nachreisen. Mit der «Italiänischen Reise» von 1816 im Gepäck und im Herzen. Dieser späte Reisebericht wurde «zum Buch der Mühseligen und Beladenen, der Beamten und Angestellten, der Ärzte und Juristen, der Kaufleute und Lehrer, die mit Goethe aus ihrem jeweiligen Weimar flohen, um in Italien noch einmal neu anzufangen.» Heimat ist dort, wo ich eigentlich hingehöre. Die Reihe der berühmten Leute, die Maurer aufzählt geht von Herder über Felix Mendelssohn, Ludwig Pollack, Ernst Robert Curtius, Rudolf Borchardt bis zu Ingeborg Bachmann und Joachim Fest.    


Nun, all das war in einem Winkel meines Hirns noch fragmentarisch vorhanden, doch ist es nicht die Sehnsucht der Deutschen nach Erlösung in Italien, die mir besonders interessierte. Der Selbstbetrug war nie mein Fach. Was aber mich aber wirklich weckte, war die Erfindung Griechenlands. Johann Joachim Winckelmann (1717-1786) hat’s entdeckt und Goethe ihm geglaubt. Nicht Rom und seine Pracht, wie noch Piranesi glaubte, sind die ewigen Wurzeln und der unüberwindliche Höhepunkt aller Kunst, sondern die Griechen mit ihrer edlen Einfalt und stillen Grösse. Es ist der Durchbruch des Klassizismus gegen Barock und Rokoko. Goethe war für das gebildete deutsche Publikum einer der entscheidensten Influencer, der diesen Geschmackswechsel befördert hat. Von Palladio rückwärts. Man fährt nach Italien um das Land der Griechen mit der Seele zu suchen oder wenigstens in Agrigent oder Paestum zu besichtigen.


Golo Maurer schreibt mit verehrender Respektlosigkeit. Er hat einen distanzierten, süffisanten Ton, was die Sprache angeht, aber auch bei der Gewichtung der faits et gestes des Hohen Herrn und seiner Nachfolger. Ich fühlte mich Maurer sehr verwandt. Doch ist er keineswegs journalistisch-oberflächlich, nein, er kennt seinen Stoff aus den ff und serviert uns stockzahnlächelnd ein bildungsgesättigtes Menu. Es isst sich leicht, doch drückt es mir nun auf den Magen. Architektur ohne die Antike, heisst meine Krankheit oder: Wie kann man die Kunstgeschichte verstehen, ohne die Alten zu kennen? Für Goethe und die seinen waren Homer & Co so selbstverständlich wie Le Corbusier für uns. Ja, selbst der schöpfte Kraft auf der Akropolis. 34 Mal sei er da hinauf gerannt, geht die Sage. Kurz, mein Bildungshochmut kriegte einen Dämpfer bei der Lektüre. Ich kann in Rom ja nicht einmal die einfachste lateinische Inschrift entziffern. Henusode, sagt sich da der Spätgeborene und liest stattdessen ein Buch über Goethes italienische Reise und die Folgen. Das ist wenigstens spannend und unterhaltend. Golo Maurer schrieb ein Buch für Leute, die an Bildungssehnsucht leiden.

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Kommentare

Thomas Fischer 07.11.2023 20:10
Sehr geschätzter Stadtwanderer lieber Benedikt Loderer, haben Sie vielen Dank für Ihre wunderbar persönliche Buchbesprechung und den Lesetipp. Da viele Leserinnen und Leser Architekt*innen und in der Tat zum größten Teil nicht diejenigen „Maurer sind, die Latein können“, wie Loos einst formuliert hat, gestatte ich mir im folgenden ein paar wenige Anmerkungen. Diese sind als Anregungen gedacht, um die Gemeinde der aufmerksam und leidenschaftlich reisenden Architekturliebhaber*innen stetig zu vergrößern. Ziel der Italienreise für alle modernen Architekt*innen nach Goethe und Winckelmann war und ist nicht Italien - sondern Sizilien. Und wer es einmal mit der Kutsche, dem Schiff und dem Maultier bis dahin gebracht hat, den hat die Stadt Syrakus als „Quellstadt“ der Alten auf dem neuen hellenischen Kontinent reichlich beschenkt. Es war in Syrakus, wo der 22-jährige Schinkel im Mai 1803, nach monatelanger Betrachtungsverweigerung sämtlicher jüngeren Architekturwerke nach Donato Bramante (einschließlich derjenigen Palladios), seine wirkliche Initiation als moderner Künstler und Architekt erlebt hat, was in der Fülle uns überlieferter fantastischer Reiseskizzen durchschwingt. Die Geschichte der modernen Architektur beziehungsweise der Architekturmoderne speist sich aus vielen Quellen. Und mit Gewissheit ist mit dem jungen Schinkel eine dieser Quellen im Mai 1803 in Syrakus entsprungen. Der Gründungsmythos der Stadt Syrakus lässt sich auch beim römischen Dichter Ovid nachlesen. Die Vereinigung vom arkadischen Fluss(-gott)Alpheios mit der syrakusaner Quelle(-nymphe) Arethusa erzählt von einer geheimnisvollen Verbindung der Stadt Syrakus unter das Mittelmeer hindurch bis hin nach Arkadien, das ja bekanntlich auf der Peloponnes liegt und dessen Hauptfluss Alfeios bis heute durch Olympia fließt. Eine großartige raumzeitliche Liebesgeschichte durch die Antike und durch die Zeiten. Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen folgende Übereinkunft vorschlagen: Italienreisenden soll es bis heute nur und wirklich nur in Syrakus gestattet sein unter Zuhilfenahme des inzwischen bestens in alle Sprachen der Welt übersetzten antiken Mythos behaupten zu dürfen: „Auch ich (war) in Arkadien“. Ich grüße sie freundlich Thomas Fischer www.thomasfischerarchitekten.ch
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