Selten noch hat mich ein Architekturbuch, so mitgenommen, schreibt der Stadtwanderer.

Die ehrgeizige Bescheidenheit

Benedikt Loderer hat Martin Boeschs Monographie über Heinrich Tessenow bewältigt. Der Herausgeber hat für sein 532 Seiten dickes Buch in jahrelanger Arbeit zusammengesucht, was in Trümmern lag.

Einen guten Monat brauchte ich, es zu bewältigen. Andersherum, dieses Buch ist ein Monumentalwerk, es könnte auch heissen: «Alles, was über Tessenow bekannt ist». Heinrich Tessenow (1876-1950) ein Mecklenburger, lernte zuerst Zimmermann, wurde Architekt und zwischen 1900 und 1933 eine der Leitfiguren der konservativen Moderne. Er taucht in meinem architektischen Bildungsgang mit dem Festspielhaus in Hellerau bei Dresden zum ersten Mal auf, René Furer zeigte in seiner Vorlesung die Tempelfassade mit dem Jing-und-Jang-Symbol, sie hat sich in mein Bildergedächtnis eingegraben. Mit gespaltenen Gefühlen stand ich in Ostberlin in der neuen Wache, der feierliche Raum Tessenows wollte nicht recht zu den zackigen DDR-Soldaten vor der Tempelfassade passen. Tessenow war wieder ein Thema, als es um den Abbruch seines Hauses Böhler in St. Moritz ging, als der Bierkönig Heinecken 1989 ein Baudenkmal vernichten liess. Ja, selbstverständlich, tauchten im Studium und später die hinreissenden Strichzeichnungen Tessenows auf, die Kleinhäuser, die das Glück im Winkel versprachen. «Seit Aldo Rossi Tessenow aus dem Halbdunkel zog, ist «Hausbau und Dergleichen» ungelesene Pflichtlektüre», schrieb der Verlag Callwey 1984 zum Reprint. Den hab ich verschlungen und im Lesezirkel Hönggerberg wurde dieses Buch besprochen. In Mendrisio schaute ich mir die Ausstellung «Heinrich Tessenow, Annäherung und ikonische Projekte» an.

Ich war also nicht ganz unbeleckt, als ich mit der Lektüre begann. Doch dann versank ich. Selten noch hat mich ein Architekturbuch, so mitgenommen. Fast hegelianisch dreifach: angestrengt, befördert und hochgehoben. Nicht dass es mühsam zu lesen wäre, nein, ich bin nirgends über akademischen Schwulst gestolpert (Miroslav Šiks Aufsatz ist eine Delikatesse!), aber es sind 532 dichtgepackte Seiten – es muss sich Zeit nehmen, wer sich nicht mit Blättern zufriedengibt. Das Format von 30 x 29 cm und das stattliche Gewicht verlangen einen Tisch, Anstrengung ist das Gegenteil von bequem.

Befördert hat das Buch meine Kenntnisse über Tessenow und sein Umfeld. Wie mir wird es vielen ergangen sein: Die ikonischen Zeichnungen der Kleinhäuser haben verdeckt, was Tessenow sonst noch geleistet hat. Seine Entwürfe für die Grossstadt habe ich in Mendrisio zum ersten Mal gesehen. Er hat nicht bloss Hüsli entworfen, sondern ebenso Wohnblöcke, Quartierplanungen, Schulen, Kasernen, Wiederaufbauentwürfe. Andersherum, es gibt einen Tessenow hinter und neben dem «heiligen Schreiner» (Julius Posener), einen grossstädtischen. Gelernt habe ich auch, wie man mit Bäumen baut, wie Tessenow die Vegetation zum Bestandteil des Projekts macht. Was allerdings vor allem auf den Zeichnungen deutlich wird, denn von den Bauten sind nur noch wenige erhalten. Sie sind durch den Krieg und die DDR gegangen, kaum noch etwas Handfestes blieb übrig. Ruinenbaumeister muss heute sein, wer sich mit Tessenow beschäftig. Martin Boesch, der Herausgeber und Erfinder dieses Buchs, hat das bei der Landesschule Klotzsche bei Dresden mit Schaufel und Pickel vorgemacht. Er hat aus den Ruinen die einstige Schule rekonstruiert.

Hochgehoben, im Verständnis vorangebracht, hat mich das Buch über den Mann Tessenow, eine Baumeisterfigur, ein Architekt, der an das Handwerk glaubte und vor allem die Kleinstadt von so 50 000 Bewohnern für lebenswert hielt. (Ein Biel also.) Er war zwar Professor in Wien und in Berlin, doch passte er viel besser in die norddeutsche Tiefebene. Das Gegenteil von Pathos heisst Tessenow. Wäre er ein Berner gewesen, er hätte gesagt: Kes Glauer u keni grosse Sprüch! Doch ist er nicht nur ein praktischer Baumeister, er ist auch ein Nachfrager und Tiefenbohrer. Er stellt eine Frage, die unterdessen in der Schweiz geradezu obszön ist: Was braucht es wirklich? Neben dem Existenzminimum braucht es auch Geborgenheit. Hausbau und dergleichen ist nicht nur eine ökonomische Organisationsfrage wie bei Ludwig Hilberseimer oder Alexander Klein, sondern darüber hinaus eine soziale Aufgabe. Häuser bauen, in denen uns wohl ist, das ist das Ziel. Man hat Tessenow als einen Kleinbürgerarchitekten abtun wollen, doch erweisen sich seine Häuser als Gefässe des guten Lebens. Es braucht Wohnfläche gewiss und bei Tessenow ist nur wenig davon vorhanden, doch es braucht mehr: Gemütlichkeit, um das verfemte Wort einmal bejahend zu gebrauchen. Er baut Gefässe für das entspannte, sich sicher fühlende Gemüt.

Ja und da ist noch das Deutschnationale, das immer mitschwingt, von Schmitthenner bis Gruber. Es endet im Nazistaat in dem Tessenow am Rand mitschwimmt. Sein einstiger Assistent Albert Speer, macht eine schwindelerregende Karriere und nach dem Krieg färbt diese auf den früheren Lehrer ab. Darf man für Hitler Kasernen bauen? Ist der hinreissende Entwurf für das Kraft-durch-Freude-Bad Prora schlechte Architektur, weil es einem Unrechtsstaat diente? Mir war Gesinnungsprotzerei immer verdächtig, vor allem wenn sie aus sicherer Distanz und besser noch, hinterher auftritt. Tessenow war ein Nationaler, ein Nazi war er nicht.

Und nun, einen Lesemonat später, wie steht’s mit mir? Ich habe Tessenow liebgewonnen. Er ist eine Grossvaterfigur, knorrig und gradaus. Er schreibt eine bildungsbürgerliche, verständliche, einleuchtende Prosa, ich glaube ihm. Er verkörpert die architektonische Hausvatertugend: Die praktische Vernunft vermählt sich mit dem architektonischen Willen. Ihr Kind heisst die ehrgeizige Bescheidenheit.

Übrigens, im ganzen Buch traf ich auf kein einziges Automobil. Es gibt eine Architektur vor und nach dem Auto.

close

Kommentare

Kommentar schreiben