Stadtwerdung zwischen Rhein und Jura

Bis 2050 rechnet Pratteln mit zusätzlichen Einwohnern und Arbeitnehmerinnen. Das Dorf plant mit dem Räumlichen Entwicklungskonzept (REK) seine Zukunft.

Fotos: Christian Aeberhard
In Zusammenarbeit mit dem Kanton Basel-Landschaft und der Gemeinde Pratteln

Bis 2050 rechnet Pratteln mit zusätzlichen Einwohnern und Arbeitnehmerinnen. Das Dorf plant mit dem Räumlichen Entwicklungskonzept (REK) seine Zukunft.

Pratteln liegt dazwischen. Zwischen Rheinufer und Nordrand des Jura und ungefähr gleich weit weg von Basel, Rheinfelden und Liestal. Der Regionalexpress Richtung Zürich rauscht ohne Halt durch den Ort. Lagerhäuser, Schornsteine, Wohnblocks fliegen vorbei. Verkehrswege beherrschen das Bild: Die Bahnstrecken von Basel nach Rheinfelden und Liestal und die Autobahn A2 zerschneiden Pratteln mehrfach und hinterlassen eine fragmentierte, von räumlichen Barrieren geprägte Gemeinde.

Doch auch Prattelns Binnenstruktur ist ein heterogenes Mosaik. Aus der Luft wirkt es, als habe der liebe Gott der Raumplanung den Ehrgeiz gehabt, alle erdenklichen Kombinationen von Agglomerationsnutzungen auf engstem Raum zu versammeln: Produktionshallen, Gleise, Logistik-Hubs, die Autobahnraststätte an der A2, Grossmärkte, eine Kläranlage, versteckte Naturoasen, Parkanlagen und Freiräume, archäologische Stätten der Römerzeit, Einfamilienhausquartiere und alte Wohnblocks, die mit ihren eisernen Wäschestangen etwas verloren zwischen den kahlen Wänden alter Produktionshallen stehen.

Dorf oder Stadt
Die Nachkriegs-Ära bescherte Pratteln ein stürmisches Wachstum. Es kam immer mehr hinzu, aber lange dachte niemand die Perspektive des Ortes als Ganzes. So hat die Gemeinde heute viele Gesichter: Auf der einen Seite das alte Dorf mit seinem charmanten Ortskern und dem Schloss. Auf der anderen Seite, nur 500 Meter entfernt, Pratteln Mitte beim Bahnhof mit zwei 25-geschossigen Hochhäusern, die wie Landmarken aus der ansonsten vier- bis fünfgeschossigen Bebauung ragen. Schon auf der kurzen Strecke vom Bahnhof ins historische Zentrum hadert der Besucher mit der Bezeichnung: Gemeinde Pratteln? Wirklich? Der Dichte nach ist das doch längst eine Stadt.

«Für Pratteln war es an der Zeit, unsere Entwicklungsziele zu schärfen, die Bevölkerung einzubeziehen und uns eine Perspektive zu geben. Wir haben tolle Potenziale, einen schönen, gewachsenen Ortskern, eine hervorragende Lage in der Region und in der Landschaft. Da wollen wir mehr draus machen – für die Bevölkerung und für die Umwelt.» Stephan Burgunder, Gemeindepräsident Pratteln

Die Frage nach Dorf oder Stadt, nach der Identität dieses Ortes, schwingt im Prozess der Erarbeitung des Räumlichen Entwicklungskonzepts (REK) unausgesprochen mit. Die Gemeinde arbeitet seit Anfang 2022 daran. Es steht derzeit in der vierten und abschliessenden Phase. Nach der Analyse, der Erarbeitung von Leitideen und Zukunftsbild wurden die daraus folgenden thematischen Teilstrategien und Massnahmen benannt (siehe Kasten ‹Ziele des REK›, unten). In jeder Phase wurden die Ergebnisse in verschiedenen Gremien, in öffentlichen Veranstaltungen und in einer vierwöchige Online-Mitwirkung intensiv diskutiert. Das Konzept soll im April 2024 fertiggestellt und vom 40-köpfigen Einwohnerrat verabschiedet werden. Nach Annahme soll seine Essenz in eine verbindliche Planung überführt werden, unter anderem in eine Revision des Zonenplans.

Bisher stützte sich die Planung für Pratteln auf einen Zonenplan aus den späten 1980er-Jahren sowie verschiedene sektorale Teilplanungen. Dagegen bildet das REK ein umfassendes Gesamtkonzept – als strategische, sektoral integrierte Planung für das gesamte Gemeindegebiet. Zwar ist es als Planungsinstrument für die Behörden nicht verbindlich. Wegen der Dimension und der Komplexität der in Pratteln anstehenden Aufgaben wählte die Gemeinde jedoch bewusst diesen Weg, mit der Möglichkeit, das REK anschliessend behördenverbindlich zu verankern.

Die verlorene Tramabstimmung
Den Ausgangspunkt für die Erarbeitung des REK bildete ironischerweise eine politische Niederlage: Im Juni 2021 hatte die Baselbieter Bevölkerung eine kantonale Vorlage verworfen, die eine Verlängerung der bislang bis Pratteln Mitte reichenden Basler Tramlinie 14 nach Salina Raurica und Augst im Nordosten der Gemeinde vorsah. Damit versetzte sie der vom Kanton und von der Gemeinde geplanten Entwicklung des Gebiets einen empfindlichen Dämpfer. Einerseits sistierte die Gemeinde daraufhin die Planung für das Gebiet Salina Raurica Ost bis auf Weiteres. Andererseits nahm sie die Schlappe sportlich und brachte das Räumliche Entwicklungskonzept auf den Weg.


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Die Gemeinde und der Kanton arbeiten in diesem Prozess zusammen. Als Kantonsplaner Basel-Landschaft begleitet Thomas Waltert die Erarbeitung des REK eng, aufseiten der Gemeinde ist der leitende Raumplaner Dirk Lohaus verantwortlich. Dieser beschreibt die grundsätzlichen Ziele der Planung folgendermassen: «Im Kern wollen wir eine identitätsstiftende Vorstellung für die Zukunft von Pratteln erarbeiten. Mit lebendigen Siedlungsräumen, attraktiven Freiräumen und einer nachhaltigen Mobilität.» Das Gebiet Pratteln Mitte um den Bahnhof solle gestärkt, die Wohnquartiere hingegen behutsam weiterentwickelt werden. «Wir wollen die räumlichen Knotenpunkte aufwerten und punktuell verdichten, damit sich Quartiere und Orientierungspunkte klarer herausbilden», erklärt Lohaus weiter. Die Industrie- und Gewerbegebiete werden städtebaulich aufgewertet und so die Flächen effektiver genutzt. Öffentliche Freiräume, Strassen und Plätze werden weiterentwickelt und ihre Aufenthaltsqualität verbessert. «Und nicht zuletzt sollen bessere Velo- und Fussgängerverbindungen die räumlichen Barrieren von Bahnstrecke und Autobahn überwinden», so Lohaus. Pratteln verfüge in den bestehenden Bauzonen über beachtliche Potenziale für eine Siedlungsentwicklung in mit dem ÖV gut erschlossenen Lagen. Lohaus rechnet mit 7000 zusätzlichen Einwohnerinnen und Einwohnern bis 2050. Rund 10 000 Menschen mehr könnten dann in Pratteln arbeiten. Damit würde sich Pratteln zunehmend emanzipieren – vom Satelliten der Stadt Basel hin zu einem autonomen Zentrum im regionalen Städtenetz.

Mit der nahen Rheinstadt ist Pratteln schon bald im 10-Minuten-Takt der S-Bahn verbunden. Dieser Schritt, für den sich auch der Kanton eingesetzt hat, ist für Thomas Waltert folgerichtig: «Pratteln ist längst Teil der funktionalen Stadt Basel. Mit neun Minuten Fahrtzeit sind die zentralen Lagen von Pratteln heute näher am Bahnhof Basel SBB als der Claraplatz», sagt er und fügt hinzu: «Die Zukunft von Basel entscheidet sich im Umgang mit den Potenzialräumen der Agglomerationsgemeinden.»

Räume aufwerten und vernetzen
Pratteln will als Arbeitsplatzstandort attraktiv bleiben. Das Konzept zielt darauf ab, die Industrie- und die Gewerbezonen in ihrer bisherigen Funktion zu bewahren und aufzuwerten. Gleichzeitig sollen gewerbliche Nutzungen so verlagert und verdichtet werden, dass in Pratteln Mitte für die Ortsentwicklung wichtige Bereiche freigespielt und neue, gemischte Nutzungen geschaffen werden können. Gemeindepräsident Stephan Burgunder betont: «Das Gewerbe darf in seinen Möglichkeiten nicht zu sehr eingeengt werden.» Gewerbe und Industrie seien für Pratteln existenziell. «Fast vierzig Prozent unserer Steuereinnahmen stammen von Unternehmen», erklärt Burgunder. Erarbeitet wird das Konzept durch das Atelier für Städtebau Van de Wetering, das Planungs- und Ingenieurbüro moveIng und Uniola Landschaftsarchitektur.

Die Arbeitsgemeinschaft visualisierte die Summe der Ideen im ‹Zukunftsbild Pratteln›, das ab der zweiten Mitwirkungsveranstaltung im Oktober 2022 diskutiert wurde. Auf dem Plan führt eine deutlich erkennbare Wegachse vom alten Dorf Pratteln über den Bahnhof und das Quartier Grüssen bis zum Rhein. Doch die Querung der Bahn ist eine Herausforderung: Bisher gibt es im Bereich des Bahnhofs nur zwei Strassenunterführungen und einen kleinen Fussgängertunnel. Zusätzliche Querungen der Bahntrasse sind eine wichtige Voraussetzung, damit die Gemeinde zusammenwachsen kann. «Mit dem REK und den Arealentwicklungen um den Bahnhof kann uns nun der seit Langem überfällige Sprung über die Gleise gelingen», sagt Dirk Lohaus. Die Gespräche mit der SBB seien konstruktiv.

Bahnhofsumfeld und Salina Raurica
Südlich der Trasse sind die städtebaulichen Aufgaben kleinteiliger, aber nicht weniger anspruchsvoll. Die Bebauung zwischen Bahnhof-, Burggarten- und Schlossstrasse bildet ein Nebeneinander unterschiedlicher Strukturen und Baualter: Vier- und fünfgeschossige Wohnbauten dominieren das Bild, dazwischen eine Reihe spitzgiebliger Einfamilienhäuser. Mit Ausnahme des alten Ortskerns und der neu gestalteten Bahnhofstrasse gibt es hier wenig Aufenthaltsqualität. Das REK will im Raum zwischen historischem Ortskern und Bahnhof klarere Strukturen und Aussenräume bilden sowie die Strassen als Bindeglieder aufwerten. Mit ‹Quartierscharnieren› wollen die Planer die Quartiere an ihren Eingängen und Knotenpunkten betonen, die Raumkanten der Strassen akzentuieren und der siedlungshaften Ansammlung von Häusern das Gesicht von Quartieren geben.

«Die Entwicklungspotenziale von Pratteln stecken in ähnlicher Form in der ganzen Agglomeration. Rund 500 Hektar Transformationsräume sind in 15-Minuten-Distanz zum Barfüsserplatz. Ich bin überzeugt, dass der ganze Kanton von einer planerischen Weiterentwicklung Prattelns profitiert.» Thomas Waltert, Kantonsplaner Baselland

Eine Schlüsselrolle nimmt das Gebiet Pratteln Mitte ein. Mit den vier Arealentwicklungen auf den Industrieflächen unweit des Bahnhofs kann sich Prattelns Zentrum künftig beidseits der Gleise entwickeln. Bisher agieren die vier Projekte eher unabhängig voneinander, doch ihre Verbindungen und Zwischenräume verdienen besonderes Augenmerk. «Noch ist offen, welche Synergien sich nutzungsseitig entwickeln werden», sagt Dirk Lohaus. Die Gemeinde und die Entwickler tauschen sich regelmässig aus. Was die Projekte für den Raumplaner im Positiven eint: Sie setzen durchweg auf gemischte Nutzungen, nicht auf monofunktionale Wohn- oder Gewerbebauten. Zudem bieten sie neue Freiflächen, und ihr Städtebau wertet die übergeordneten Wegeverbindungen auf.

Die Entwicklung in der Rheinebene – gestützt auf die gemeindliche Zonenplanung Salina Raurica, die der Regierungsrat 2017 genehmigt hat – ist ein zweiter städtebaulicher Schwerpunkt des REK. Auf einem von Rhein, Bahn und Autobahn gebildeten trapezförmigen Areal. An direkter Rheinlage befinden sich Gewerbezonen und öffentliche Nutzungen. Ganz im Osten soll nach geltendem Zonenplan ein neues durchmischtes Quartier mit gemeinsamem Park zum Längiquartier entstehen siehe Seite 29. «Salina Raurica Ost und das Bahnhofsumfeld sind absolute Top-Lagen innerhalb der Stadt-Landschaft Basel», erklärt Kantonsplaner Thomas Waltert. Lang seien sie aber nicht als solche erkannt worden. Diese Potenziale gelte es nun für die nächsten Generationen als attraktive Lebens- und Arbeitsräume zu entwickeln.

Partizipation und Kritik
Hört man sich in Pratteln um, stösst man auf viel Zustimmung für das REK. «Eine koordinierte Entwicklungsplanung war längst überfällig», meint etwa Petra Ramseier, die für die ‹Unabhängigen Pratteln› im Einwohnerrat sitzt. Allerdings seien die Erwartungen hoch. Sie hoffe, dass «ein handfestes Werkzeug» entstehe und am Ende nicht nur «viele schöne Worte» auf dem Papier stünden. Vor allem bei den Zielen hinsichtlich Grünflächen, Energie- und Klimastrategie dürfe es nicht bei Lippenbekenntnissen bleiben. Das Mitwirkungsverfahren war in ihren Augen ein hoffnungsvoller Start. Rahel Graf sitzt für die SP im Einwohnerrat und hat ebenfalls an mehreren Veranstaltungen teilgenommen. «Die Meinungen und die Bedürfnisse der Einwohnerinnen und Einwohner wurden wirklich abgeholt», sagt sie. Der Parkring für Pratteln Mitte, die Förderung des Langsamverkehrs und die geschwindigkeitsreduzierten Begegnungszonen in den Wohnstrassen um den Bahnhof seien wichtige Impulse, um den öffentlichen Raum aufzuwerten.

Das Schlussprotokoll der dritten Mitwirkungsveranstaltung Ende April 2023 spiegelt diese Einschätzung: Die grosse Mehrheit der Teilnehmenden befand, es würden die richtigen Themen bearbeitet. Die im REK vorgesehene Siedlungsentwicklung fand eine hohe Zustimmung der Anwesenden, ähnlich positiv war die Resonanz auch bei Freiraum und Klimaanpassungen. Gleichzeitig gibt es aus der Bewohnerschaft konkrete Kritik: «Bevor wir uns damit beschäftigen, wie man Pratteln wieder mit dem Rhein verbinden kann, sollten wir die Quartiere innerhalb des Zentrums besser miteinander vernetzen», sagt etwa Anita Fiechter, Präsidentin des Vereins KMU Pratteln. Auch Rahel Graf spürte in ihren Gesprächen mit Mitbürgern Zweifel: «Viele fragen sich: Wie schnell wollen wir wachsen, und wie viel Wachstum vertragen wir?» Manche befürchteten wohl, dass ein wachsendes Pratteln Verkehrschaos und ein Ende der überschaubaren Nachbarschaften bedeutet. Petra Ramseier teilt diesen Eindruck. Viele ihrer Mitbürger täten sich schwer damit, «Pratteln als junge, dynamische Vorstadt» aufzufassen, in den Köpfen sei bis heute das Bild des alten Dorfs vorherrschend. An den Mitwirkungsveranstaltungen seien vor allem alteingesessene Einwohnerinnen und Einwohner präsent gewesen.

Dinge gemeinsam entwickeln
Der aussenstehende Beobachter merkt dem REK und dem Zukunftsbild ihre Herkunft als Ergebnis eines breit abgestützten Beteiligungsprozesses an. Sie versammeln viele positiv formulierte Ziele, bleiben bei heiklen Fragen jedoch eher vage. Der ausgedehnte Partizipationsprozess unterstützt – quasi en passant – aber zugleich einen wichtigen sozialen Effekt des REK: dass sich die alten und neuen Prattlerinnen und Prattler stärker mit ihrem Wohnort identifizieren und gemeinsam die Frage nach seinen Perspektiven stellen. Gemeindepräsident Stephan Burgunder sagt: «Wir haben einen guten Zusammenhalt im Ort und können Dinge gemeinsam entwickeln.» Wenn das REK 2024 abgeschlossen sein wird, kann es als gemeinsamer Kompass für das Selbstverständnis und die Perspektive des Ortes dienen. Dazu gehört wohl auch der Mut, die faktische Stadtwerdung anzunehmen und es geradeheraus auszusprechen: Wir sind jetzt Stadt!

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