Es steht viel Beherzigenswertes über Architekturkritik in diesem Buch, eines aber vermisste ich aus eigener Erfahrung: Ein Gedicht besteht aus Worten, nicht aus Gefühlen, schriebt der Stadtwanderer.

Pflicht und Macht der Kritik

Im intellektuellen Reigen tanzen die Weltgrössen. Jede wirft einen Aufsatz in den Gabenkorb. Gebunden zu einem bunten Strauss wird ein Buch daraus. Genauer: Ein Tagungsband.

Wilfried Wang von der University of Texas in Austin fragte in die akademische Runde: «Should architectural criticism be enlightening?» In einer Online-Konferenz gingen eine Auswahl von 16 Experten dieser Frage nach. Entstanden ist daraus ein 320 Seiten dickes Buch. Ich wühlte in einer Wundertüte. Denn obwohl sich der Herausgeber bemühte, das weitgestreute Material in vier grosse Kapitel abzufüllen, dröhnt mir der Kopf. Wie soll ich das alles unter dem Titel «On the Duty and Power of Architectural Criticism» unter einen Hut bringen?


Ich hab den einfacheren Weg gewählt und die einzelnen Beiträge als Einzelbeiträge gelesen. Die Suche, ob dahinter eine unsichtbare Hand einen sinnvollen Zusammenhang schnürte, die liess ich fahren. Eine Erkenntnis aber gewann ich: Meine Welt ist viel zu eng. Mit Austin haben Leute aus der ganzen Welt korrespondiert, andersherum, mein helvetisches Architekturwissen und -verständnis geht kaum über Europa und die USA hinaus. Eingefahren ist mir das bei der Lektüre des Aufsatzes von Ruth Verde Zein, Architektin und Professorin in Sao Paulo. Sie schaut sich die Hagiographie der Moderne von Süden an. Alle Architekturbücher der letzten 200 Jahre, stellt sie fest, «rely upon limited, exclusive, skewed and biased narratives». Übersetzung: Die Architekturgeschichte wurde von Westmenschen geschrieben, die Westerzählungen verbreiteten. Könnte es sein, dass nicht die vier kanonischen Gründerväter allein, FLW, LC, Mies und Gropius die Moderne erfanden, sondern noch ganz andere Leute?

Nicht nur die aus der zweiten Reihe in Europa, sondern Architekten aus andern Kontinenten ebenfalls. Sind wir heute nicht im 21. Jahrhundert angelangt und die Moderne schon mehr als eines alt? Sind da nicht auch anderswo Dinge entstanden, die die Geschichte der Moderne verändert und geprägt haben? Wer die Welt von Brasilien aus betrachtet, hat einen anderen Horizont. Meiner ist zu eng, musste ich zugeben.


Es steht viel Beherzigenswertes über Architekturkritik in diesem Buch, eines aber vermisste ich aus eigener Erfahrung: Ein Gedicht besteht aus Worten, nicht aus Gefühlen, andersherum: Die Kritik ist ein Text. Wie man Texte schreibt, darüber steht kein Wort in diesen 320 Seiten, noch weniger, was ein guter Text sei. Wie man den Schritt (Sprung?) von der gebauten Wirklichkeit zu einem einleuchtenden Text schafft, darüber herrscht Schweigen. Müsste nicht ein gelungener Aufsatz das Kino im Kopf des Lesers einschalten und er sieht, was er liest? Mir steht zu viel über Architekturen in diesen Aufsätzen und zu wenig über das Kritikmachen.


Ich las mich durch eine Folge von Beispielen. Die Glocken der Heimat läuteten zweimal, beide Male beim Rolex Learning Center (RLC) von Saana. Wie wird, was im Model so hinreissend aussieht, zur ernüchterten Wirklichkeit, fragt sich Fernando Diez, noch ein Professor? Für das Learning Center, ein social condenser, kommt er zum Schluss, dass «clients and sponsors were more interested in the spectacular nature oft he proposal than the building’s usefullness.» Mit Verlaub, so ist es mir auch ergangen. Auch Christophe Van Gerrewey von der EPFL ist eher ungnädig mit dem RLC: «anything but designed for the careful use of resources.» 


Erfreut hat mich die Einführung von Wilfried Wang, der Klartext schreibt. Es geht um architektonische Qualität und darum, wie wenig sie das Publikum kümmert. Er schreibt über die «Architectural Principles in the Age of Climate Change» und bleibt im Kontakt mit der gebauten Wirklichkeit. Es sind meist Einzelstudien, was so auch von den Veranstaltern verlangt war, das, was die Architekturhistoriker und -theoretiker eben bewegte und nun als Architekturkritik verkauft wird. Trotzdem, ich hab es gern gelesen. Ein jeder sucht sich selbst was aus. Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.

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