Ich las ein Handbuch, in dem ich lernte, was ein ethisch verantwortlicher Umgang mit dem Erben bedeutet, schreibt der Stadtwanderer.

Erben verpflichtet

Auf einem Millionengrundstück in Horgen entsteht eine sozial orientierte Überbauung. Sie ist in allem das Gegenteil der Hüslischweiz. Von den 18 Pflichtparkplätzen sind nur acht vermietet.

Gute Architektur braucht gute Bauherren. Das schrieb und predigte ich 50 Jahre lang. Zuweilen habe ich auch verschiedene Exemplare dieser seltenen Gattung angetroffen. Bisher war noch keine Bauherrin dabei. Jetzt aber entdeckte ich sie: Anna Barbara Züst. Sie gehört zu den Erbinnen der Dynastie Feller, genau, die mit der Fabrik in Horgen und den eleganten Schaltern, die meine Bauzeichnerstifti erfreuten. Es gab von 1950 bis 1992 in der Schweiz keine anderen Lichtschalter die von den Architekten geachtet wurden.


Anna Barbara Züst erbte einen Landstreifen, in Horgen ganz oben, grad unter der Autobahn. Erben verpflichtet, war ihr Grundsatz. In einer Gesellschaft, wo erben Beutemachen ist, eine seltene Einstellung. Wer die Schweiz wirklich verändern will, sollte beim Erbrecht beginnen, die grossen Vermögen werden vererbt, nicht erarbeitet. Eine saftige Erbschaftsteuer tut not, doch das ist nur eine leider notwendige Abschweifung.


Anna Barbara Züst liess sich beraten. Zuerst von landesüblichen Immobilienleuten, die ihr den Verkauf der Liegenschaften vorschlugen. Ihr Programm sei an diesem Standort nicht quartierüblich. Denn sie wollte «ein ökologisches und soziales, ein gutes Zusammenleben förderndes Bauvorhaben realisieren». Das mit Blick auf den Zürisee und die Alpen und erst noch nicht gewinnorientiert, vergleichbar mit gemeinnützigem Wohnungsbau! Sie suchte sich also andere Berater und fand sie über Gundula Zach: Monika Hartmann und Claude Vaucher. Nach intensiver Auseinandersetzung gründete Züst eine Aktiengesellschaft, die Trift AG, das Bauland ist ihr Eigenkapital. 


Horgen ist Agglo, Agglo heisst Auto. Wer in Horgen autofreie Mietwohnungen bauen will, beisst auf Granit. Autofrei ist unsittlich, denn das Auto ist Sitte. «Am meisten Energie und Überzeugungskraft brauchte das Durchsetzten der Autofreiheit», so Züst. Die Lösung heisst Vorbehaltsfläche, der Nachweis, dass noch genügend Platz da ist, wenn einst die Parkplätze doch noch nötig würden. Der Kleinkrieg mit den benachbarten Hüslischweizern verdient auch Erwähnung, der Kampfgesang der Aufgebrachten lautet: Die wollen uns etwas wegnehmen! Die Chronik des Planungsprozesses liest sich wie «Besitzesstörung durch linke Ideologie. Eine Geschichte aus dem Speckgürtel». Der Gemeinde Horgen hingegen muss man ein Kränzlein winden, sie hat das Projekt «wohlwollend begleitet».


Das Buch erzählt ausführlich die Entstehungsgeschichte des Projekts. Besonders betont wird die Nachhaltigkeit. 3000 Watt pro Person und Jahr, der Durchschnitt hierzulande liegt bei 4700. Für die erste Etappe, Kuppe, lautet die Bilanz für Erstellung, Betrieb und Mobilität: Primärenergie minus 64 Prozent, Treibhausgase minus 80 Prozent verglichen mit dem Schweizerdurchschnitt. Wie das? Durch niedrige Wohnfläche pro Kopf und durch den Verzicht aufs Auto. Andersherum ein Lehrstück. Wem es ernst ist mit der 2000-Watt-Gesellschaft, sei ein Ausflug nach Horgen empfohlen. Das genügt aber keineswegs: Wir müssen unseren Lebensstil ändern. Wie denn? Du sollst nicht fliegen. Du sollst kein Fleisch essen. Du sollst nichts wegwerfen.


Im letzten Frühling stand ich auf der Kuppe, wo Esch Sintzel die erste Etappe gebaut haben. Es ist ein Wildwestcamp, ein Gegenentwurf. Die Architekten merkten es erst allmählich, «wie frivol es eigentlich ist, ausgerechnet auf diesem Millionenhügel auf Exklusivität zu verzichten und stattdessen auf Inklusion zu setzen». Fünf Häuser stehen um einen gemeinsamen Hof, man lebt im Vis-à-vis, in knapp bemessenen Wohnungen, doch mit grossem Freiraum. Es ist eine Antwort auf die Frage: Was braucht es wirklich? Wäre ich nicht ein in der Wolle gefärbter Altstadtbewohner, ich würde nach Horgen zügeln. Es sieht so erfrischend unfertig aus. Obwohl alles schon da ist, kann noch Vieles werden auf der Kuppe. Mir gefällt das «prekäre gestalterische Gleichgewicht von möglichst autonom behandelten Elementen, die nur ein schmaler Grat von der Bricolage» trennt. Es herrscht die prätentiöse Bescheidenheit.


Ich las ein Handbuch, in dem ich lernte, was ein ethisch verantwortlicher Umgang mit dem Erben bedeutet. Nochmals: Erben verpflichtet.

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Kommentare

Benno I. Gassner 01.09.2023 10:04
Endlich findet das Sparsame Fahrt. Es sind Errungenschaften, die sich zeigen lassen. Nutzen wir in Zukunft mehr den Mut zur Klarheit. Beispielhaft schauen wir doch nach Horgen, Nachbarstadt zu Richterswil am See. Da fühle ich mich wohl.
Andreas Konrad 30.08.2023 21:51
Der bereits fertiggestellte Teil beweist: Aus «armen» Materialien bringt der gesegnete Zeichenstift ein Meisterstück hervor. Der schöne Gegenentwurf zu dem Zürisee – Durchschnitt, wo feinste Materialien meist zu Vulgärarchitektur zermahlen werden. Eine gute, eine gar kluge Erbin, ein Büro, das mit Detailversessenheit, grossem Wissensschatz und poetischem Verständnis ein paar Bauten hinsetzt, die den Bewohnern und dem Vorbeifahrendem guttun. Innen etwas gar holzig, aber das soll den Aussenstehenden nicht scheren – es ist das Strassenbild, das dem Betrachter nicht wie die würdelosen Schweizerklötzli angähnt, sondern äusserst liebevoll entgegenlächelt. Weiter so!
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