Mir hat Reckwitz ein Licht aufgesteckt. Seine Vierklassengesellschaft leuchtet mir ein, vor allem, was die absteigende alte Mittelklasse betrifft, schreibt der Stadtwanderer.

Die neue Klassengesellschaft

Altmodisch und marxistisch verwendet Andreas Reckwitz das Modell der Klassengesellschaft, obwohl wir sie längst überwunden haben. Wirklich? Die Lektüre sagt etwas anderes: Es gibt sie, die Klassen.

Ich habe das Buch am falschen Ende begonnen. Von den fünf Aufsätzen las ich zuerst jenen über die Krise des Liberalismus und liess den Band bald sinken. Mich nervte der Soziologenjargon, zum Beispiel: «Zunächst entsteht und dominiert ein sozial-korporatistisches Paradigma», das später abgelöst wird «durch das Paradigma eines apertistischen («öffnenden») Liberalismus.» Immerhin war ich mit Reckwitz einer Meinung, dass wir mit Verlust rechnen müssen, «den Verlust eines Modells der Gesellschaftsentwicklung, welches eine Steigerung materiellen Wohlstands in eine unendliche Zukunft als Normalfall annahm.» Ich hätte geschrieben: Unsere Kinder werden es schlechter haben.


Nachdem ich mich durch die Krise des Liberalismus durchgekämpft hatte, lockte mich das Stichwort Drei-Klassen-Gesellschaft und da wurde es spannend und sogar lesefreundlich, jedenfalls fast. Reckwitz schildert die Entwicklung «von der Nivellierenden Mittelstandsgesellschaft zur Drei-Klassen-Gesellschaft.» Er unterscheidet heute vier Klassen. Die Oberschicht, Leute mit geerbtem Vermögen, und ohne Zukunftssorgen. Die allerdings interessieren ihn kaum, er behandelt sie nur nebenbei. Darum zählt er sie auch nicht mit, denn ihn interessieren die drei, die darunter folgen: Die neue und die alte Mittelklasse und die neue Unterklasse.


Die neue Mittelklasse, dass sind die Aufsteiger. Sie geben den Ton an. Sie verfügen über ein hohes kulturelles Kapital, «vor allem in Form formaler Bildungsabschlüsse». Sie sind Urbaniten, leben von der Wissensökonomie, streben nach Selbstentfaltung, trachten nach Lebensqualität, wollen etwas Besonderes sein, Singularitätsprestige, heisst das auf Soziologisch. Sie profitieren von der Globalisierung, sind mehrsprachig, mobil und kosmopolitisch. Weitere Stichworte sind: Flexibilität, Kreativität, lebenslanges Lernen, Gesundheitsbewusstsein, Stilsicherheit, emotionale Kompetenz, ökologisches Bewusstsein, Emanzipation, kurz, liebe Leserin, geschätzter Leser, erkennst du dich? Wer Loderer liest liest, gehört zur neuen Mittelklasse.


Die alte hingegen, das sind die Absteiger. Das sind die «normalen Leute», Angestellte, mittlere Beamte, Handwerker, Büromenschen. Sie sind sesshaft, wohnen in den Klein- und Mittelstädten. Ihr Konsum bestimmt ihren Status, sie sind ordentlich und verteidigen die Ordnung. Ihr Leben heisst Arbeit, sie verachten, wer armengenössig ist. Ihr Leben ist lokal geprägt. Entscheidend aber ist, sie leben zwar noch gut, aber sie steigen nicht auf. «Wichtiger noch ist, dass die alte Mittelklasse kulturell in die Defensive geraten ist». Sie fühlen sich abgehängt, nicht ernst genommen, als Provinzler abgestempelt. Die einstigen Inhaber der kulturellen Dominanz fühlen sich vernachlässigt und reagieren mit Ressentiment. Sie wehren sich gegen die neuen Eliten, verdammen die Globalisierung, sind neidisch auf die Metropolen, kurz, les gilets jaunes, die ja nicht zur Unterklasse gehören, sondern «normale Franzosen» sind. Bei uns sind diese Leute Anhänger der Schweizerischen Vulgärpartei SVP. Ihnen nimmt man ständig etwas weg.


Die Unterschicht das sind die Untenbleiber. Sie arbeiten hart, doch langt das kaum zum Leben. Für sie ist das Dasein ein Kampf, vor allem haben sie keinen Stolz mehr. Während früher die Proleten mit einem positiven Klassenbewusstsein sich als das Fundament der Gesellschaft betrachten konnten, alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm das will, so ist die heutige Unterklasse «auch kulturell entwertet.» Körperliche Arbeit hat an Ansehen verloren.


Reckwitz dekliniert nun seine Klassengesellschaft durch alle ihre Fälle: Geschlecht, Migration, Religion und Milieus. Ich beschränke mich hier auf das Geschlecht. In der neuen Mittelklasse profitieren die Frauen von der Bildungsexplosion und der Liberalisierung. Sie leben in partnerschaftlichen Verhältnissen, wenigstens theoretisch, erreichen berufliche Ziele, gebären Wunschkinder, haben Entfaltungsmöglichkeiten, von denen ihre Schwestern vor zwei Generationen nur träumen konnten. In der alten Mittelklasse hingegen sind die traditionellen Rollen noch am Werk. Stichwort intakte Familie. Selbstverständlich nimmt der Anteil der Alleinernährer und der Nurhausfrauen ab, aber dass es so sein sollte, bleibt. Und in der Unterschicht? Das Dienstleistungsproletariat ist überdurchschnittlich weiblich, doch ist das keine Emanzipation, sondern der nackte Zwang zur Erwerbsarbeit. Die Männer, vor allem die jüngeren, leiden unter der «Krise der Männlichkeit», worauf sie mit Machogehabe antworten.


Mir hat Reckwitz ein Licht aufgesteckt. Seine Vierklassengesellschaft leuchtet mir ein, vor allem, was die absteigende alte Mittelklasse betrifft. Die drei weiteren Aufsätze über «Hyperkultur und Kulturessenzialismus», «Postindustrialismus und kognitiv-kultureller Kapitalismus» und schliesslich «Die erschöpfte Selbstverwirklichung» sind lesbarer als ihre Titel befürchten lassen. Ein Versprechen im Untertitel hingegen hält das Buch: Die Illusionen sind zu Ende. Unsern Kinder wird es schlechter gehen und unsern Enkeln mies.

close

Kommentare

Kommentar schreiben