Ich amüsierte mich köstlich beim Lesen. Die Handlung ist verworren, die Personen alle überzeichnet. Vorgeführt wird ein buntes Welttheater in einer geschlossenen Anstalt., schreibt der Stadtwanderer.

Der katholische Zerrspiegel

Benedikt Loderer hat «Der rote Diamant» verschlungen und las seine katholische Erziehung im Zerrspiegel. Der Autor Thomas Hürlimann zeigt sich mit hohem Unterhaltungswert als Meister der wahren Lüge.

Was ist es? Eine Lausbubengeschichte, Primanerkohl, ein Krimer, eine Schatzsuche, ein Bildungsroman, ein Pubertätserzählung? All das, aber vor allem eine frühkindliche Prägung, die sich auswächst: Der Katholizismus. Ort der Handlung ist das Kloster Maria Schnee, dass Einsiedeln Pate gestanden hat, ist offensichtlich. Zeit: die Jahre bis 1968. Das zweite vatikanische Konzil putzt den Mief aus den Soutanen und den Glauben aus den Herzen der Zöglinge. Sie werden erwachsen und damit zu katholischen Atheisten. Ich bin dabei gewesen, sagte ich mir beim Lesen. Es ist das Buch meiner Jugend und beschreibt indirekt meine Flugbahn vom Ministranten zur POCH. Die Heimkehr zur Einkehr allerdings, wie sie Hürlimann, Jahrgang 1950, in seiner EU-Ablehnung vollzogen hat, die Altersschweizerei, die schaffte ich nie. Ich war nicht lange genug in Berlin.


Ich amüsierte mich köstlich beim Lesen. Die Handlung ist verworren, die Personen alle überzeichnet. Vorgeführt wird ein buntes Welttheater in einer geschlossenen Anstalt. Das Stück heisst «Die Zeitmühle» und zeigt wie die Tage zerrinnen. Seinesgleichen geschieht. Träge fliesst der Fluss des schulischen Alltags, fest in den Stundenplan gepresst. Die Schüler sind leere Vasen, in die der Schulstoff, kräftig mit kirchlichem Salz und Pfeffer gewürzt, abgefüllt wird. Das ist der Basso continuo der Räubergeschichte, die darüber schwebt. Der rote Diamant, den der Erzähler, genannt Nase und seine Klassenkameraden suchen, hat eine verzwickte Geschichte, der Plot ist ziemlich fantastisch, aber mit viel altgläubigen und habsburgischen Versatzstücken garniert. Ich jedenfalls habe zuweilen geschmunzelt, auch laut herausgelacht.


Meine liebste Figur ist die Kaiserin Zita, die jedes Jahr am 1. April das Kloster besucht und mit der Gottesmutter, sprich dem Gnadenbild, ein einsames Rendezvous hat. Habsburg steht für die alte katholische Tradition. Als Böhmen noch bei Österreich war, da war die Welt noch geordnet, leider aber nicht in Ordnung. Doch das Kloster trotzt der Welt. Der schleichende Wandel dringt trotzdem ein, die Mauern der Katholikenfestung können ihn nicht aufhalten. In der Abenddämmerung der Pius XII-Kirche, da treten die letzten Mönche auf. Der Überlebende von Stalingrad mit den abgefrorenen Zehen, der Uhrenbruder, ein Säulenheiliger mit Papagei, der auf dem Kirchturm lebt, der Menschenvogel, der Pater Pförtner ist, kurz, wer kurlige Figuren liebt, dem wird das Buch gefallen.


Selbstverständlich endet alles im Zerfall. Das Kloster ist leer und eine schauerliche Bühne für den letzten Akt. Der rote Diamant gerät auf wunderbare Weise in Nases Hand, die Gnadenkapelle stürzt ein, er bleibt heil. Er versteckt den Diamanten wo? Das darf der Stadtwanderer nicht verraten, der Spannungsbogen, auch wenn er einige Knicke und Blähungen aufweist, soll stehen bleiben. Das gehört zum Handwerk des Kritikers und dient der Förderung des Buchverkaufs.


Hürlimanns Sprache reisst mich mit. Ich las das Buch in einem Schwick. Der Unterhaltungswert ist hoch, die der Erkenntnisgewinn tief, das Vergnügen gross.Ich las meine katholische Erziehung im Zerrspiegel.

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