Es ist eine kurlige Geschichte, die auch kein Ende findet. Gotthelf legte den Roman 1845 unvollendet in sein Pult und hat ihn nie wieder hervorgeholt, schreibt der Stadtwanderer.

Der Herr Esau

Wer will heute noch Gotthelf lesen? Ich. Warum denn? Aus Leselust. Mehr braucht es nicht.

Lies mich nochmals, raunte das Buch als ich davorstand. Gotthelfs «Herr Esau» wandte mir zwar den Buchrücken zu, doch sein dringender Wunsch, war nicht zu überhören. Also las ich. Es ist eine kurlige Geschichte, die auch kein Ende findet. Gotthelf legte den Roman 1845 unvollendet in sein Pult und hat ihn nie wieder hervorgeholt. Alle seine Freunde, die das Manuskript gelesen hatten, rieten ihm von der Publikation ab: Zu polemisch, zu einseitig, literarisch zu schwach.


Worum geht’s? Es sind drei Milieus, die auftreten: Das neue Bürgertum der Liberalen, das nach 1831 im Kanton Bern die Macht übernimmt und zu dem Herr Esau, einer der damals 18 Regierungsräte, gehört. Er wohnt in der Stadt und hat Geldsorgen. Eine Familie hat er auch, eine Tochter, die Kleider braucht, um anständig an die Soirée gehen zu können, dann noch einen Sohn, Jakob, der eine Stellung braucht, zu der ihm der Vater verhelfen soll. Die alte Aristokratie verkörpert der Major, der eine ulidige Frau hat und sich mit den neuen Machtverhältnissen schlecht zu arrangieren weiss. Schliesslich noch Sime Sämeli, ein Grossbauer, mit einem Sohn und zwei Töchtern und einem einträglichen Hof. Eine Frau, die aus demselben Holz geschnitzt ist wie er, die mit Worten den Jakob Esau zu knütteln weiss, hat er auch.


Jakob, eine Hängepflanze, führt durch den Roman, der Anstalten macht, zum Bildungsroman auszuufern. Jedenfalls zeigt er nach 400 Seiten Erdulden selbstständige Regungen. Es lohnt sich kaum, die Geschichte zu referieren, man spürt, wie sie planlos dahinplätschert. Gotthelf kann die Tinte nicht halten. Er schreibt, von Einfall zu Zufall, die Figuren regieren den Schreibfluss, der verzweigt sich und versandet. Der Dichter schafft keine Dichte.


Was mir aber einfuhr beim Wiederlesen ist die Figur des Sime Sämeli mit seiner Sippe. Die hat Bauernstolz, will sagen, ist hochmütig. Abgrundtief verachten diese Ländler jeden, der nicht ihresgleichen ist. Das trifft Jakob, der bei seinem Militärkameraden Sämi, dem ungeschlachten Sohn, zu Besuch ist und dort die Verachtung erlebt, mit der die Bauern die Städter behandeln. Der alte Sime Sämeli ist über alle, die nicht seinesgleichen sind, hocherhaben, sei es der Major und Aristokrat, sei es der Regierungsrat Esau, dessen Frau die Lebensmittel auf dem Markt kaufen muss. Verächtlich sind ihm Leute, die z’Hus sind, also in einer gemieteten Wohnung leben.


Wer das Land regiert, ob die Aristokraten oder die Liberalen, ist den Sime Sämelis egal, sie sind souverän auf ihrem Hof und kümmern sich nicht um Politik, sondern nur um die Mehrung ihres Reichtums. Jakob Esau ist das verachtete Opfer des Bauernstolzes und er braucht einen Roman lang, bis er sich wehrt, gegen den Bauernhochmut und gegen den Vater, der den Sohn als seinen Hörigen behandelt. Es hätte noch etwas aus ihm werden können, hätte ihn Gotthelf nicht in die Schublade entsorgt.


So las ich nicht ein Pamphlet gegen den Radikalismus, wie das Nachwort Rudolf Hunzikers, geschrieben 1922, mich glauben machen will, sondern eine Schilderung des Bauernhochmuts. Sie können zwar kaum lesen, doch sind sie überzeugt, ein höheres Wesen als einen Grossbauern gebe es auf Erden nicht. Es ist Land gegen Stadt. Gotthelf macht die Städter lächerlich, die Ländler aufgeblasen.


Frage noch: Warum lese ich das und sogar zum zweiten Mal? Klar, es ist Gotthelfs Sprache, die mich fasziniert. Da ist ein Berndeutsch drin, das ich selber rede und Wucht, die mich antreibt. Die Klagen über die Predigten im Text, die übergehe ich wie die Predigten auch. Einfach zusammengefasst: Gotthelf macht mir Leselust.

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