Es gibt eine Schweiz vor und nach dem Auto. Keine andere Wirkungsmacht hat uns je gründlicher verändert, die Architektur ebenso, schreibt der Stadtwanderer.

Das Jahrhundert des Automobils

Benedikt Loderer hat «Automobil und Architektur» gelesen. Erik Wegerhoff fasst darin die Liebes-, Vernunfts- und Zwangsheirat und schliesslich Scheidung von Architektur und Automobil zusammen.

Die Benzinschweiz ist verwirklicht. Für nichts anderes haben wir so viel Geld, Geduld und Gehirnschmalz investiert, wie für die Herrichtung des Vaterlands zum Gebrauche des Automobils. Es hat sich gelohnt. Heute gibt es pro Haushalt 1,23 Auto und 0,42 Kind. Was aber heisst das für die Architektur?
Das «Aufeinandertreffen von Automobil und Immobilie ist der Anstoss für dieses Buch». Ergebnis? Das Auto bewegt sich, das Haus bleibt stehen. Noch Fragen? Ja gewiss, was geschieht architektonisch bei diesem Zusammenstoss? Zuerst ist da das Beschleunigen, es folgt das Schalten, schliesslich das Abbremsen und am Schluss das Aussteigen. So fasst Erik Wegerhoff die Liebes-, Vernunft- und Zwangsheirat und schliesslich Scheidung von Architektur und Automobil zusammen.


Die Beschleunigung zuerst: Am Anfang war das Tempo und das Tempo war automobil und das Automobil fuhr geradeaus. La folie de la vitesse brauchte eine neue Strasse, die Gerade. Darauf raste der wagemutige Sportsmann bald mit über 100 Kilomenter pro Stunde dahin. Die architektonische Moderne beginnt mit der Verherrlichung der Geschwindigkeit. Fortschritt ist Tempo und «die geringe Mühe», es zu erreichen. Klar, dass nun im Buch Le Corbusiers Autoliebe abgehandelt wird. Genauer, die Fortsetzung der Autobewegung im Gebäude, vorgeführt am Atelierhaus Ozenfant und der Villa Savoye. Das Stichwort heisst «Standart», mit t geschrieben, weil das an art erinnert. Der Standart ist ein Zuchtprodukt und wird im Esprit Nouveau verherrlicht. Die Ingenieuraufgabe Auto verbessert sich von Modell zu Modell und erreicht eine immer höhere Perfektion, woraus die Schönheit entsteht. Die Architektur hat eine neue Rolle, «die eines Transformators automobiler Geschwindigkeit in künstlerische Avantgarde.»


Dem stellt Wegerhoff das Mossehaus Mendelsohns gegenüber. Das ist zwar abgerundet, wie der Verkehrsfluss es verlangt, aber steht bullig da und bewegt sich nicht. Mendelsohn schrieb dazu, das Haus «bändigt durch die Ausgeglichenheit seiner Kräfte die Nervosität der Strasse und Passanten».

Damit komme ich zum Schalten. Da steckte mir Wegerhoff ein Licht auf. Stichwort «ruhender Verkehr». So reden wir dahin, doch ist es ein Widerspruch in sich selbst, Verkehr ist das Gegenteil von Ruhe, der ruhende ist keiner. Was ruht, verkehrt nicht. Doch jede Fahrt hat ein Ende, womit der Parkplatz erreicht ist. Ab 1950 wird die Freude am Fahren durch die Mühsal des Stehens beeinträchtigt. Man muss die Freiheit des Fahrers einschränken, ihm Vorschriften machen, Regeln aufzwingen, mit Strafen drohen. Es sitzt kein Sportsmann mehr am Steuer, sondern ein genervter Pendler.


Dann macht Wegerhoff einen Abstecher zu Peter Blake, genauer zu seinem Buch «Gods own Junkyard. The planned deterioration of America’s landscape», erschienen 1964. Es sieht übel aus auf Amerikas Strassen, was Blake mit Schauerbildern beweist. Das Problem ist kein ästhetisches, die Verluderung der landscape, sprich carscape, sondern der überwältigende Erfolg des Autos, sein «massenhaftes Vorkommen». Was Blakes Zorn erregte, ergötzte Venturi. In «Learning from Las Vegas», erschienen 1972, preist er, was Blake verdammt.


Zum Kapitel Schalten gehört auch das Hochhaus zur Palme von Haefeli Moser Steiger, fertig gestellt 1964. Die berühmte Doppelhelix-Rampe, die erste Silberkugel (Justus Dahinden), der Autoschalter der Kreditanstalt, das waren damals Symbole des Fortschritts. Doch stellt Wegerhoff die Umkehrung von Ursache und Wirkung fest: Nicht das Auto bestimmt mehr die Architektur, nein, es ist nun die Architektur, «der das Auto seine Bewegung zu verdanken hat». Wie das? Durch die Überwindung des Blockrands, der, war man damals überzeugt, ist schuld am Verkehrschaos. Comment disait l’autre? Il faut tuer la rue corridor! Das Hochhaus zeigt mit seinen Parkplätzen über dem Sockelbau und im Keller, dass künftig im Gebäude parkiert wird, im «Terrarium für Autos». Das Erdgeschoss hingegen ist nun durchlässig und eine Aufweitung der Fussgängerzone.


Das Abbremsen nun. Stichwort «Mischverkehr». In den Siebzigerjahren habe ich als mitbewegter Beobachter der Geburt der Spielstrasse zugeschaut. Ein sentimentaler Aufstand gegen die Herrschaft des Automobils. Aber auch eine Absage an die Funktionstrennung. Statt nur für Fussgänger, wie in der damals Mode gewordenen Fussgängerzone – die Trennung der Funktionen ist DAS Konzept der Moderne – ist nun die Verkehrsmischung angesagt. Die Postmoderne erreicht die Strasse. Zu besichtigen etwa auf dem Zentralplatz von Biel, wo zum ersten Mal die Rotlichter abgeschafft, die Zebrastreifen ausradiert und Schritttempo verordnet wurde. Erst wenn alle gleich langsam sind, funktioniert das Mischen.


Noch einen Ausflug unternimmt der Autor. Er besucht die Strada Novissima an der Architekturbiennale von Venedig 1980. La presenza del passato, remember? Die Kulissenstrasse der damals berühmten Zeitgenossen führte ins Centro storico, seitdem ist die Altstadt das umschwärmte Gegenteil von God’s own Junkyard.


Warum Wegerhoff nach Vals fuhr, um mir Zumthors Therme vorzuführen, hat mir nicht eingeleuchtet. Nach 20 Seiten Beschreibung, der Stichworte «Berg, Stein, Wasser» kommt er zur Behauptung, der Weg im Innern sei «nichts anderes als das Erlebnis der Valserstrasse, übersetzt in eine Badelandschaft». Wirklich? Ja, denn «Ohne Auto – und sei es das Postauto – kommt kein Badender nach Vals».


Aussteigen zum Schluss. Wir wurden immer langsamer im 20. Jahrhundert. Wer die 15-Minutenstadt zum Ideal erhebt, geht zu Fuss, fährt höchstens Rad. Wer immer noch unter der folie de la vitesse leidet, ist moralisch defekt und muss seinen Fussabdruck verstecken. Ergebnis: Es gibt eine Schweiz vor und nach dem Auto. Keine andere Wirkungsmacht je hat uns und die Architektur gründlicher verändert.

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