Schultz schreibt von den geosozialen Klassen, die auf dem Kampf um Land, Klima, Luft, Energie, Boden, Nahrungsmittel, Wasser und Anbaufrüchten basieren.

Conclusions d’un promeneur solitaire

Loderer hat «Landkrank» gelesen. Darin beschreibt der Soziologe und Philosoph Nikolaj Schultz den Klassenkampf um Territorium und Ressourcen. Wir alle sind darin verwickelt.

Der mir wichtigste Satz steht im Nachwort von Dipesh Chakrabarty: «Das auf dem Wunsch nach ‘Beherrschung’ der Natur basierende Projekt der Moderne ist gescheitert.» Das erfährt Nikolaj Schultz leibhaftig. Sein Körper ist behaftet mit dem heutigen Zustand der Erde. Er liegt in Paris bei 43° auf dem zerwühlten Bett und zermartert sein Gehirn. Wie kann er sich noch rechtfertigen, wenn er im Supermarkt Lebensmittel einkauft, «jedes davon in Plastik eingepackt, das am Ende irgendwo im Meer landet?» Immer deutlicher wird ihm: «Das Problem bin ich.»


Er liegt im Dunkeln und stellt fest, dass sein Überfluss woanders zur Katastrophe führt. Während er im Westen behaglich lebt, wird sein Konsum am andern Ende der Welt zur Bedrohung. Er sieht ein: Es gibt eine Welt, in der ich lebe, und eine, von der ich lebe. Da sind auf der einen Seite die vielen Existenzen, von denen ich abhängig bin, und auf der andern Seite meine Beteiligung an der Vernichtung der Lebensgrundlagen dieser Existenzen. Ich zerstöre, was mich nährt. Da meldet Schultzens Smartphone: Heute hat deine Grossmutter Geburtstag. Er überlegt: Meine Zukunft, er hat Jahrgang 1990, steckt in der Vergangenheit meiner Grossmutter. Sie «lebte in der Gegenwart, aber von der Zukunft». Anders gefragt: Was bleibt nach der üppigen Mahlzeit noch übrig?


Im Augenblick nur die Flucht. Zwar will er mit leichtem Gepäck reisen, doch es ist bleischwer. Ein T-Shirt 2700 Liter Wasser, eine Jeanshose 3300 Liter und noch 11 Kilogramm CO2 dazu. Nichts mehr ist unschuldig, weder Sache noch Mensch. Ein Freund setzt ihn mit seinem Boot auf der Insel Porquerolles vor der französischen Mittelmeerküste ab. Dort will er sich von der Hitze und der Verzweiflung erholen. Auf einem einsamen Spaziergang, wie es westliche Intellektuelle gewohnt sind. Abseits, an der Küste, trifft er auf eine alte Frau, die ihn bittet, woanders hinzugehen, denn, obwohl sie auf der Insel geboren wurde, ist kein Platz mehr für sie da. «Ich kann keinen einzigen Meter Strand für mich selbst finden.» Die Insel gehört unterdessen den 15 000 Touristen, die im Sommer die Insel überschwemmen. Sie wollen ihrem Alltag entfliehen, bleiben kurze Zeit, ihre Spuren aber sind von Dauer. Die alte Frau wird abgedrängt, sie verliert ihr Territorium. Die alte Frau ist landkrank, eine Mangelkrankheit.


Während er auf der Insel umherirrt, macht er sich Gedanken über die Freiheit. Es ist die Freiheit von Behinderungen seines Tuns und seiner Bewegung im Raum. Doch hat die Erde keine Chancen gegen die Macht dieser Freiheit. Denn sie ist ausschliesslich die der Menschen. Doch «heute bestehen Gesellschaft und sittliche Ordnung nicht mehr nur aus Subjekten, sind nicht mehr nur eine von Menschen geschaffene Sphäre. Sie bestehen vielmehr aus einer Fülle von Existenzen einschliesslich Wasser, CO2, Insekten, Tieren, Wäldern, Seegras, Luft, Boden, Land – die alle auf ihre Weise ethisches Engagement und moralische Reflexion erfordern.»


Er findet in die «Zivilisation» zurück, wo er auf einen Strassenwischer trifft, der ihm von den Problemen des Tourismus erzählt. Das Trinkwasser geht aus und muss mit Tankschiffen vom Festland herübergebracht werden. «Tragfähigkeit der Insel» ist das Stichwort oder ab wann wird die Produktion von Tourismus kontraproduktiv? Die einen wollen die Insel ökonomisieren, die anderen ökologisieren. Als während der Pandemie die Produktion von Touristen ausfiel, erholte sich das Ökosystem der Insel überraschend deutlich. Das beweist, dass der Tourismus im Normalbetrieb ein Destruktionssystem ist. Nur, wovon Leben in Porquerolles?


Es herrscht ein neuartiger Klassenkampf. Er «nimmt eine andere Gestalt an, organisiert sich zunehmend um die territorialen Reproduktionsmittel und um die Wege zur Sicherung der Bewohnbarkeitsbedingungen, die von vitaler Bedeutung der verschiedenen Lebensformen sind.» Ursprünglich sollte die Produktion die Reproduktion sichern, doch auf der Insel zerstört die Produktion unterdessen die Bewohnbarkeitsbedingungen, sprich die Reproduktion. Ursache und Wirkung haben sich vertauscht. Heute ist Reproduktion wichtiger als die Produktion. Cultura heisst Pflege, sie ist das Gegenteil von Raubbau.


Nur auf der Insel? Schultz spricht von geosozialen Klassen, die auf dem Kampf um Land, Klima, Luft, Energie, Boden, Nahrungsmittel, Wasser und Anbaufrüchten basieren. Wer verfügt über das Territorium? Das entscheidet. Oder in marxistischer Sprache zusammengefasst: «Es reicht nicht mehr, Ausbeutung durch die Stellung im Arbeitsprozess und die Aneignung des Mehrwerts zu definieren. Ausbeutung wurzelt nun im Boden und basiert auf der Aneignung der ‘Mehrexistenz’, die es einigen Kollektiven ermöglicht, an ihren Lebensweisen festzuhalten, und zwar auf Kosten der Chancen anderer Menschen, die grundlegenden irdischen Bedingungen der Bewohnbarkeit aufrechtzuerhalten.» Voilà tout und wir, die europäischen Schweizer, sind mitgemeint, denn auch wir lassen uns nichts wegnehmen. Das wird Tote geben.

close

Kommentare

Kommentar schreiben