Mustafa Eraslu (28) macht zurzeit eine Zweitausbildung in Verkauf und Beratung in der Massschneiderei ‹Sanazza› an der Piazza Santeramo. Sein Bruder wohnt im Glasi-Quartier. «Hier ist viel los, es gibt viele Läden und Musik.» Fotos: Christian Senti
In Zusammenarbeit mit BGZ, Logis Suisse und Seraina Invest

Einleben im Eigenleben

Im Glasi-Quartier in Bülach leben seit Sommer 2023 in knapp 600 Wohnungen rund 1200 Menschen. Beim Spaziergang durch die Gassen ergeben sich überraschende Begegnungen mit einigen von ihnen.

Die Dächer versprechen Paris, der gepflästerte Stadtraum eine Piazza in Italien. Wir sind aber weder da noch dort, sondern in Bülach Nord. Zwischen mehrspuriger Bahnlinie und temporeicher Autobahnzufahrt ist in den vergangenen Jahren ein eigenständiges Stück Stadt entstanden. Auf dem Areal, wo bis in die 1970er-Jahre die berühmten grünen Einmachgläser von der Glashütte hergestellt wurden und wo das Feuer in den Brennöfen noch bis 2002 loderte, stehen heute 22 neue Gebäude. Sie bieten rund 20 000 Quadratmeter Gewerbefläche und 583 Wohneinheiten – 112 in Eigentum und mehr als die Hälfte gemeinnützig verwaltet. Es gibt Wohnungen für Familien, Einzelpersonen, Betagte, junge Paare und solche für Menschen in Ausbildung. Die einen sprechen von Durchmischung, andere von Begegnung.

Der Biochemie-Student Quodrat Haskemi (24) wohnt im Glasi-Quartier in einer WG. «Hier bekommt man einfach einen besseren Standard für sein Geld als in Zürich.»

Quodrat Haskemi trägt die Einkaufstüte über der Schulter, den Hausschlüssel hat er bereits in der Hand. Der 24-Jährige studiert Biochemie, seit einem knappen Jahr wohnt er im Glasi-Quartier. «Wir haben für unsere WG eine Wohnung ausserhalb der Stadt Zürich gesucht, weil man einfach einen besseren Standard bekommt für sein Geld. Ich bin entweder an der Uni oder zu Hause, eine Party-WG sind wir nicht.» Vor dem Haus vis-à-vis sieht es mehr nach Dolce Vita aus. Hier hat man die Zeit dafür, es ist das Ü50-Haus – «Und ich, ich bin 81!», sagt die Bewohnerin, die ihren Namen lieber für sich behält. «Ich bin fit, immer unterwegs, trinke mal hier und mal dort einen Apéro. Im Haus hat sich eine richtige Clique gefunden, die sich regelmässig trifft.»

Der Glasi-Platz setzt einen selbstbewussten und selbstverständlichen Auftakt. Dabei stellt die Topografie des Geländes gerade hier die gewohnte Wegführung infrage ; fünf Meter Höhenunterschied galt es zu überwinden. Das ermöglicht nun eine breite, bepflanzte Treppe. Vor dieser steht Adrian Aeschbacher, Landschaftsarchitekt bei Studio Vulkan. Nachdem Vogt Landschaftsarchitekten den Wettbewerb 2013 gewonnen hatte, führte Studio Vulkan den Masterplan aus. «Ich weiss nicht, wie oft wir über diesen Ort diskutiert haben», sagt Adrian Aeschbacher und deutet auf die Treppe. «Mal war es eine Böschung, mal eine abschliessende Wand, mal ein Brunnen, mal eine durchgehende Treppe, der jedoch die Balkone der angrenzenden Häuser in die Quere gekommen wären.» Gerade jetzt ist die Treppe der Pausenplatz für eine Angestellte des Supermarkts. Angelehnt an die Stufen überblickt sie die freie Fläche, auf der künftig auch mal ein Floh- oder ein Wochenmarkt stattfinden soll.

Duplex Architekten haben das ganze Areal als sechsgeschossiges Gebäudevolumen gedacht, aus dem sie strahlenförmig Gassen herausgeschnitten haben.

Ein einfaches Strassennetz verbindet die insgesamt vier Quartierplätze. Um jedes Gebäude ziehe sich eine differenzierte Vorzone, so der Landschaftsarchitekt. «Die Grundlage ist ein Baukastenprinzip. Wohnen und Gewerbe haben ihre eigenen Gestaltungselemente. Daraus ergibt sich ein relativ einfaches Grundkonzept: Die verschiedenen Bausätze addieren sich über das Ensemble hinweg in unterschiedlichen Kombinationen. Das macht das Ganze interessant.» Die Hauptachsen sind teilweise farbig asphaltiert, Pflastersteine oder Platten ebnen den Weg zu den Hauseingängen, dazwischen versickert Wasser im Kies. Die Autos der Anwohnerinnen sind in der Tiefgarage darunter versorgt, oberirdisch gibt es Stellplätze für Trottinetts und Velos.

Martin Rüfenacht (49) ist Velomechaniker und Teamleiter im ‹Velowerk› der Stiftung Wisli. «Jetzt sind wir ‹mitts im Chueche›», freut er sich.

«Die Verkehrsanbindung ist ideal», sagt Nicola Spina, der in Glattbrugg arbeitet. «Aber ich will trotzdem zurück aufs Rad. Jeden Tag mit dem Velo zur Arbeit – jeden Tag 40 Kilometer!» Er bringt sein Fahrrad ins ‹Velowerk› der Stiftung Wisli, das Anfang Jahr an den Ahornhof gezogen ist. Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen finden hier ein sicheres Arbeitsumfeld. Spina hat dem Team ein Möbel für die Werkstattküche geschenkt, das er selbst nicht mehr brauchte. Er wird mit Vornamen begrüsst, ein Service steht an. Ein paar Tage müsse er sich aber schon gedulden, bis er wieder aufs Rad könne, sagt Teamleiter Martin Rüfenacht. «Zu unserem alten Standort kam man mit einem Platten kaum hin. Jetzt sind wir ‹mitts im Chueche›.» Das erste Fahrrad, das sie am neuen Standort verkauft hätten, sei ein Jugend-Mountainbike gewesen, erzählt sein Kollege Rico Kohli. «Für den Schulweg.» Das passt zum neuen Lokal, vor dem die Kinder auf dem Spielplatz herumtoben und ein Zweijähriger auf seinem Laufrad hin und her wackelt.

Am Ahornhof wurden – wie könnte es anders sein – ausschliesslich Ahornarten gepflanzt. Ihre Stämme sind mal knorrig und verästelt, mal glatt, der Rote verliert alle paar Monate die Blätter. Adrian Aeschbacher legt den Kopf in den Nacken. Der 60 Meter hohe Wohnturm ‹Jade› von Wild Bär Heule hat 19 Stockwerke. «Die Herausforderung ist die menschliche Dimension. Wir mussten herausfinden, wie viel Gründichte dieses Quartier erlaubt. Je weiter man den Strassenzügen nach innen folgt, desto grüner wird es.» Bei der Piazza Santeramo hat Studio Vulkan versucht, die unterschiedlichen Grössenmassstäbe mit einer üppigen Bepflanzung in mehreren gepflästerten Töpfen zu brechen. Bei den Erdgeschosswohnungen bilden Gehölze, Sträucher und Stauden einen natürlichen Sichtschutz. Auch hier galt es, Dichte und Offenheit in der Gestaltung abzuwägen. An manchen Stellen haben Bewohner bereits zur Gartenschere gegriffen, um die Aussicht freizuschneiden. Der Landschaftsarchitekt sieht das gelassen: «Man muss realistisch sein. Irgendwann sind wir weg, und dann gehört der Raum ganz seinen Bewohnerinnen.»

Ob sie aus dem Obst der Bäume im kollektiven Vorgarten dann tatsächlich Marmelade kochen ? Dafür will René Fuhrimann, Leiter des Fachbereichs Zusammenleben bei der BGZ, sorgen. Schon vor dem Einzug hat die Genossenschaft den ersten Kontakt unter den künftigen Nachbarn ermöglicht. «Wer in eine neue Wohnung zieht, muss sich neu orientieren. Das setzt eine gewisse Offenheit voraus, und man kann diese Menschen gut ansprechen. Wenn sie schon jahrelang an einem Ort wohnen, ist es viel schwieriger, sie für ein nachbarschaftliches Engagement zu gewinnen», so René Fuhri­mann. Einen Monat vor dem Einzugstermin luden Logis Suisse und die BGZ, die Bauträger der meisten Mietwohnungen im Glasi-Quartier, zu einem Willkommensanlass ein. Erste Chatgruppen wurden gegründet, inzwischen gibt es sogar eine App für das Quartierleben. In den Gruppen entscheiden die Mieter, welches Mobiliar sie für die halböffentlichen Bereiche möchten.

Mimoza Ilazi (38) kümmert sich im Glasi-Quartier um die Vermietung der Gemeinschaftsräume. Sie wohnt mit ihrem Mann und den drei Kindern in einer Wohnung mit Blick auf die beiden Spielplätze.

Mimoza Ilazi hat sich schon vor dem Einzug um ein Engagement für die Gemeinschaftsräume beworben. Nun kümmert sie sich um die Vermietung. «Gerade plane ich ein Kaffeekränzchen für die Nachbarn, damit man sich näher kennenlernt. Die Gemeinschaftsräume eignen sich hervorragend dafür, die Tür steht allen offen. Wenn ein Kindergeburtstag gefeiert wird, kriegen alle Kinder, die vorbeikommen, ein Stück vom Kuchen.» Seit anderthalb Jahren wohnt die 38-Jährige mit ihrem Mann und den drei Kindern im Glasi-Quartier, es war eines der ersten Häuser, die bezugsbereit waren. Jedes Kind hat ein eigenes Zimmer, jetzt gerade sind sie aber draussen. «In Deutschland konnten die Kinder nur auf den Spielplatz, wenn ich dabei war. Hier sind sie den ganzen Tag selbständig unterwegs.» Vom Balkon im vierten Stock hat Mimoza beide Spielplätze im Blick. «Ich habe neulich zu meinem Mann gesagt: Unsere Kinder können hier die Kindheit leben, wie wir sie gehabt haben.»

Unten beim Gleisfeld stehen die ersten Hochbeete, die eine Gruppe Anwohnerinnen mit Frühlingszwiebeln und Erdbeeren bepflanzt. Andere engagieren sich für das Quartierfest oder bauen gemeinsam einen Kindertreff auf. Die Genossenschaft brachte Erfahrungen aus ihren anderen Siedlungen ein und begleitet gemeinsam mit Logis Suisse nun auch hier Projekte. René Fuhrimann: «Die Gruppen haben sich schnell gefunden und tragen aktiv zum Zusammenleben bei. Ziel ist es, eine Quartierorganisation aufzubauen, die über ein eigenes Budget verfügt und möglichst autonom funktioniert.» Auch die Nachbarn aus den Eigentumswohnungen werden angesprochen, das Quartier gehört allen.

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Kommentare

Andreas Konrad 08.09.2023 02:13
Endlich ! Bülach zeigt, wie es geht: Nämlich so ! Ein kluger , durchdachter Plan, keine trostlosen , anonymen Blöcke mit Abstandsgrün, sondern ein Ort, auf den die Bewohner stolz sind. Leider sind die einzelnen Häuser, neben ein, zwei fein gestalteten Mailänder Palazzi, ein wenig gar grob geraten. Hier gibt es noch Verbesserungspotential - gerade die Fassaden geben hier Identität und Wohlbefinden. Alles in allem ein guter Wiederanfang, ein poetisches Rinascimento ! Tod der Nachkriegsmoderne ! Auf zum poetischen Neuanfang ! Mögen weitere Agglobrachen dem Beispiel folgen ! Bien fait !
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