Mehr Zeit für Kritik!
Die Schlusskritiken am Departement Architektur der ETH Zürich sind vorüber. Doch was ist das eigentlich, Kritik? Ob der Professor seine Studierenden kritisiert, diese sich selbst oder den Professor und seine Lehre – meistens fehlt es an der nötigen Zeit.
Es ist ruhig auf dem Hönggerberg. Die Lasercutter sind eingestellt, die Plotter pausieren, die Zeichensäle sind leer. Drei Wochen nach der Schlusskritik an der ETH Zürich findet das Leben der Architekturstudierenden wieder draussen statt. Die Alumni Lounge ist voll besetzt. Es wird gelacht und diskutiert, über die vergangene Kritik, das vergangene Semester, die bisherige Studienzeit. Der Begriff «Kritik» leitet sich vom griechischen kritike ab, der Kunst der Beurteilung. Beurteilen zu können setzt Wissen voraus. Dinge müssen differenziert betrachtet, im Kontext gesehen und verstanden werden. Kritik ist folglich nicht nur die Kunst zu urteilen, sondern auch die Kunst zu verstehen. Eine Form der Kritik an der Architekturschule ist die Beurteilung des Entwurfs durch den Professor. Die Schwierigkeit, konstruktive Kritik zu geben ist teilweise ein didaktisches Problem, öfter aber eines der Kapazität. Meist sind die Entwurfskurse zu gross, die Studenten zu viele. Gesichter, die sich der Professor kaum merken kann. Die Kunst zu verstehen, worauf der Student in seinem Entwurf hinaus will, braucht Zeit.
Eine weitere Form der Kritik ist die Selbstkritik. Die Studentin betrachtet ihren eigenen Entwurf mit Distanz, stellt ihre Entscheidungen in Frage. Doch die Zeit fehlt auch ihr, gefangen in der «Maschinerie» ETH. Zeichnungen, Renderings, Modellbau – viel Aufwand und, vor allem zu Ende des Semesters, wenig Zeit für Reflexion. Das Nachdenken über Aussagekraft und Angemessenheit der gezeigten Details und über die Anzahl der Pläne und Modelle kommt meist zu kurz, obwohl es den Produktionsaufwand vielleicht hätte reduzieren können.
Die vielleicht schwierigste Form der Kritik ist aber diejenige, der Studentin an ihre Lehrer und deren Lehre. In den letzten zwei Wochen verbringen wir vor der Abgabe geschätzte 18 Stunden am Stück vor dem Laptop. Gesundheitliche Folgen? Der homo faber als physiognomische Rückbildung des homo sapiens. Sein aufrechter Gang muss dann von Physiotherapeuten wieder hergestellt werden. Mit der Beurteilung ihrer Ausbildung halten sich die Studierenden jedoch zurück. Keine Zeit für Kritik.