Die zehn Vorteile des offenen Wettbewerbs

Alles spricht für den Projektwettbewerb im offenen Verfahren. Wir haben die wichtigsten Argumente gesammelt.

Fotos: Volker Bienert

Alles spricht für den Projektwettbewerb im offenen Verfahren. Wir haben die wichtigsten Argumente gesammelt.

Absurd ist es, den offenen Projektwettbewerb überhaupt verteidigen zu müssen. Denn der Projektwettbewerb im offenen Verfahren, wie er fachlich korrekt heisst, hat fast nur Vorteile für Auftraggeber und Architekturbüros. Trotzdem ist er in den letzten Jahren unter Druck geraten. Die Argumente gegen das fairste, günstigste und bewährteste Verfahren sind meist diffus und nicht belegbar. Darum lohnt es sich wieder einmal, die Vorteile zu benennen. Wir haben zehn Gründe, die für den offenen Projektwettbewerb sprechen, zusammengetragen.

Alle Bilder stammen aus Ausstellungen von offenen Wettbewerben.

1. Grösste Lösungsvielfalt
Warum sollte ein Bauwilliger auf ein grosses Angebot an Lösungen verzichten? In offenen Projektwettbewerben kann er aus dreissig bis fünfzig Vorschlägen auswählen, oft auch aus mehr. Studienaufträge oder selektive Wettbewerbe bieten eine deutlich kleinere Palette, und das Risiko, ein Haus zu bauen, das nicht passt, steigt. Noch schwieriger ist ein Direktauftrag, der vergleichbar ist mit Roulette. Vielleicht glückt der Entwurf, vielleicht auch nicht.
Die Kosten sind nicht das einzige Argument für ein Siegerprojekt, aber ein wichtiges: Schätzungen der Baukosten in Architekturwettbewerben zeigen meist Unterschiede von zwanzig Prozent zwischen den eingegebenen Projekten, häufig auch mehr. Beim Bauen geht es um Millionen und um Häuser, die uns überdauern werden. Umso wichtiger ist ein preiswertes und gutes Projekt. Im Alltag vergleichen wir Produkte: Stimmen Preis und Qualität? Nützt es mir? Warum tun das viele nicht, wenn es um Häuser geht?

2. Bewährtes Verfahren
Mitte des 19. Jahrhunderts brauchte der junge Bundesstaat viele neue öffentliche Bauten wie Museen. In den Architekturwettbewerben kam es immer wieder zu Streitigkeiten um die Aufträge. Darum wollte der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA) die Verfahren regeln. Am 30. September 1877 verabschiedete er an der Generalversammlung die ‹Grundsätze über das Verfahren bei öffentlichen Concurrenzen›. Seither hat der SIA die Ordnung für Architektur- und Ingenieurwettbewerbe mehrmals erweitert und angepasst. Im öffentlichen Beschaffungswesen bezeichnen Gerichte und Kantone sie oft sogar als subsidiäres öffentliches Recht. Die zehn Paragrafen von 1877 waren so erstaunlich modern formuliert, dass sie heute noch Gültigkeit haben. Sie berücksichtigen die Interessen der Bauherren, schützen aber auch die Arbeit des Architekten durch ein standardisiertes Verfahren. Zwar waren damals Ideenwettbewerbe und ‹Vorconcurrenzen›, also zweistufige Verfahren, mitgemeint, aber die damaligen Herren des SIA dachten vor allem an den offenen Projektwettbewerb. Und der wurde seither mehrere tausend Mal durchgeführt, eine genaue Zählung gibt es nicht. Heute finden in der Schweiz jedes Jahr noch etwa fünfzig offene Projektwettbewerbe reibungslos statt. Den Architektinnen und Architekten ist eine faire Beurteilung ihrer Entwürfe wichtig, da sie Gratisarbeit leisten, wenn die Jury ihre Beiträge nicht prämiert. Den offenen Wettbewerb akzeptieren sie als ein faires Verfahren, darum ist er bei ihnen so beliebt.

3. Nicht rekursanfällig
Im Gegensatz zum offenen Projektwettbewerb muss die Jury bei selektiven Verfahren Architekturbüros präqualifizieren. Die Jurys geben sich Mühe. Aber egal wie ernsthaft sie das angeht, es bleibt eine Blackbox. Man beurteilt Personen, nicht Projekte. Systembedingt ist eine Präqualifikation auch nicht transparent. Das schafft einen Nährboden für Spekulationen: Warum hat die Jury dieses Büro ausgewählt, warum jenes nicht? Die Architektinnen und Architekten haben sich jahrelang mit Rekursen zurückgehalten. Man wollte dem Architekturwettbewerb nicht schaden. Doch in der Wettbewerbsszene spüren wir Unzufriedenheit. Die Architekturbüros sind rekursfreudiger geworden. Der offene Projektwettbewerb bleibt von Einsprachen meist verschont.

Offene Wettbewerbe sind fair.

4. Faires Verfahren
Von allen möglichen Verfahren ist der offene Wettbewerb das fairste, weil er erstens allen offensteht und zweitens anonym durchgeführt wird. Namen spielen bei der Jurierung genauso wenig eine Rolle wie persönliche Verbindungen oder Verpflichtungen. Ganz im Sinne der französischen Aufklärung zählt einzig das bessere Argument. Nur der offene Wettbewerb garantiert deshalb die gleichen Chancen für alle teilnahmewilligen Architektinnen. Dass er nicht nur das fairste, sondern auch das qualitativ überzeugendste Resultat hervorbringt, versteht sich von selbst: Beim offenen Wettbewerb gewinnt das beste Projekt – und nicht der berühmteste Architekt.

5. Nachwuchsförderung
Die etablierten Architekturbüros haben sich in jungen Jahren in offenen Projektwettbewerben gemessen. Meistens sind sie auf diesem Weg gross geworden. Obwohl viele renommierte Büros heute fast nur noch bei selektiven Verfahren mitmachen, stehen sie hinter den offenen Verfahren und unterstützen sie. Den freien Zugang zum offenen Projektwettbewerb nutzen viele junge Büros. Das ist Nachwuchsförderung. Wir sehen immer wieder: Unerfahrenheit kompensieren junge Büros mit höherem Engagement. Und ein alter Architekt sagte einst weise: «Erfahrung schützt nicht davor, Fehler zu wiederholen.» Routine kann blind machen. Neben dem Nachwuchs gibt es auch ältere nicht etablierte Büros. Sie müssen den offenen Wettbewerb ebenfalls nutzen, um sich zu qualifizieren. Nachwuchsförderung bedeutet auch Chancengleichheit.

6. Unerwartete Lösungen
Der selektive Wettbewerb mit Präqualifikation ist ein Konkurrenzverfahren mit kleinem Teilnehmerfeld: Eine Handvoll Architekturbüros, die auf dem Feld der gestellten Aufgabe Erfahrung vorweisen können, machen den Wettbewerb unter sich aus. Davon erhofft sich der Auslober eine gewisse Sicherheit. Häufig ist er am Ende jedoch mit Projekten konfrontiert, die solide sind, aber niemanden begeistern. Der offene Wettbewerb dagegen bringt zuverlässig unerwartete Lösungen und architektonische Erneuerung hervor – nicht nur als logische Konsequenz aus der grösseren Anzahl eingereichter Projekte, sondern auch, weil die Teilnehmer sich gegen eine breitere Konkurrenz behaupten müssen. Die Architekten wissen: Nur mit einem wirklich herausragenden Beitrag kann ich gewinnen. Statt routinierter Lösungen aus der Schublade kommt der Auslober mit einem offenen Wettbewerb zum passgenauen, auf Ort und Programm abgestimmten Projekt – Überraschung, Ambition und Freude inbegriffen.

Offene Wettbewerbe sind schlanke Verfahren.

7. Freier Zugang zum Markt
Es klingt widersprüchlich: Wer lokalen Architekturbüros eine Chance geben möchte, muss den Zugang zur Bauaufgabe für alle öffnen, und zwar europaweit. Denn wer die Szene vor Ort fördern will, ist mit einer Präqualifikation schlecht bedient: Sind die Eignungskriterien rechtmässig formuliert, fällt das kleinere regionale Architekturbüro oft durch die Maschen. Bei einem offenen Verfahren hingegen können lokale Architektinnen und Architekten ihr Wissen über den Ort einbringen und präsentieren mit diesem Vorteil nicht selten ein Siegerprojekt.
Das Argument, es sei volkswirtschaftlicher Unsinn, wenn mehr als hundert Architekten ein Projekt für eine Bauaufgabe eingeben, hören wir nur von Nichtarchitekten. Lassen wir die Architektinnen und Architekten doch selbst entscheiden, ob sie diese Zeit investieren möchten. Ihnen ist der freie Zugang zum Markt wichtiger. Einer demokratischen und liberalen Gesellschaft steht ein Ausschluss arbeitswilliger Teilnehmer schlecht an. Vor allem bei öffentlichen Aufgaben sollten wir eine grosse Diskussion mit möglichst vielen daran Beteiligten zulassen.

8. Keine Präqualifikation
Keine Präqualifikation durchführen zu müssen, befreit die Jury von einer unliebsamen Aufgabe und den Wettbewerbsorganisator von einem administrativen Aufwand, der am Ende kaum kleiner ist als bei einem offenen Wettbewerb. Eine Präqualifikation bedeutet die Durchsicht von bis zu hundert Bewerbungsdossiers und deren Bewertung nach einem rekursanfälligen System. Der Arbeitstag, den die Jury für diese Tätigkeit einsetzen muss, wird im offenen Wettbewerb sinnvoller investiert: Hier diskutiert man über konkrete Wettbewerbsprojekte statt über die etwaige Eignung von Architekturbüros.

Offene Wettbewerbe sind Nachwuchsförderung.

9. Schlankes Verfahren
Von der Ausschreibung eines offenen Projektwettbewerbs bis zum Juryentscheid genügen oft schon sechs Monate. Selektive und mehrstufige Verfahren benötigen deutlich mehr Zeit, auch wegen der zusätzlichen Rekursfristen. Achtet man bei offenen Verfahren zudem auf den Umfang der Eingabe und reduziert die Aufgabe auf das zum Zeitpunkt des Wettbewerbs absolut Nötige, spart man in der Jurierung viel Zeit und macht den Architekturbüros eine Freude. Wir wagen zu behaupten, dass noch nie ein Wettbewerb über den Konstruktionsschnitt entschieden wurde. Trotzdem verlangen viele Auftraggeber einen solchen schon im Wettbewerb. Wer als Bauherr stufengerecht denkt, spart viel Zeit und Geld.

10. Forschungs- und Trainingsfeld
Wer sich für die Durchführung eines offenen Wettbewerbs entscheidet, fördert auch die Forschung, denn Wettbewerbe sind der unmittelbarste Anlass zum architektonischen Diskurs. Hier werden Entwurfsideen formuliert und erprobt, relevante Themen gesetzt und weiterentwickelt, Gewohnheiten hinterfragt und Neuerungen getestet. Offene Wettbewerbe sind ein Forschungs- und Trainingsfeld für Architekturbüros, jedes Projekt ist ein Beitrag zur laufenden Diskussion. Der breite fachliche Austausch, der mit dem offenen Wettbewerb ermöglicht wird, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für architektonische Qualität. Wer den offenen Wettbewerb fördert, fördert darum nicht nur die Forschung, sondern auch ein wertvolles gemeinsames Gut: die Baukultur.

Kommentare

Klaus K. 19.03.2020 18:03
Vielen Dank für dieses schöne Argumentarium!
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