«Zürich hat Aufholbedarf»

Die Stadt plant und baut ein Netz von Velovorzugsrouten. Was damit gemeint ist und wie es in die Strassen gelegt wird, erläutert Rupert Wimmer vom Tiefbauamt in Hochparterres Themenheft «Stadt Land Velo».

Fotos: Stadt Zürich
In Zusammenarbeit mit Energie Schweiz

Die Stadt plant und baut ein Netz von Velovorzugsrouten. Was damit gemeint ist und wie es in die Strassen gelegt wird, erläutert Rupert Wimmer vom Tiefbauamt in Hochparterres Themenheft «Stadt Land Velo».

Die Volksinitiative ‹Sichere Velorouten für Zürich›, die 2020 angenommen wurde, verlangte Schnellrouten. Nun plant und baut die Stadt aber Velovorzugsrouten. Warum die neue Bezeichnung?
Rupert Wimmer*: ‹Schnell› wäre das falsche Signal gewesen. Wir planen sichere, durchgängige Routen für ein breites Spektrum an Velofahrenden. Möglich wird dies mit einer weitgehenden Vortrittsberechtigung, Tempo 30 und der Reduktion des Durchgangsverkehrs. Deswegen haben wir uns für den Begriff Velovorzugsrouten entschieden.

Die Initiative forderte mindestens fünfzig Kilometer neue Routen. Wie legen Sie dieses Netz in die gebaute Stadt?
Rupert Wimmer: Ein Teil davon stand schon in der ursprünglichen Motion 2017 / 243 im Gemeindeparlament fest: die Mühlebachstrasse, die Scheuchzerstrasse, die Baslerstrasse und die Verbindung zwischen Affoltern und Oerlikon. Nun haben wir ein Netz von Vorzugsrouten entworfen, das zu drei Vierteln auf kommunalen Strassen und abseits von den Achsen des öffentlichen Verkehrs verläuft. Dort ist wenig motorisierter Individualverkehr unterwegs, und vielfach gilt bereits Tempo 30. Damit ändern wir unsere bisherige Strategie, die Velohaupt- und -komfortrouten auf Hauptverkehrsachsen zu führen, denn dort sind Zielkonflikte mit dem motorisierten Individualverkehr und dem öffentlichen Verkehr die Regel. Natürlich sollen die Routen trotzdem direkt und durchgängig sein. Deshalb führen sie teils über komplexe Knoten, etwa den Bucheggplatz oder den Wipkingerplatz – eine Herausforderung.

Die neuen Routen sollen autofrei und vortrittsberechtigt sein. Wird die Stadt dies einlösen?
Rupert Wimmer: Das Vorzugsroutennetz wird über hundert Kilometer lang. Davon werden rund achtzig Prozent grundsätzlich autofrei und in der Regel an Querungen vortrittsberechtigt sein. Autofrei meint Abschnitte mit baulich getrennten Radwegen oder Quartierstrassen mit weniger als 2000 Motorfahrzeugen pro Tag. Bei dieser Belastung und mit Tempo 30 ist der Mischverkehr aus Auto und Velo verträglich. Die Werte stimmen mit den Standards in Deutschland und den Niederlanden überein.

«Wir werden mehrere Tausend Parkplätze aufheben.»

Woher nimmt die Stadt den zusätzlichen Platz fürs Velo?
Rupert Wimmer: Auf den genannten Quartierstrassen braucht es in der Regel keine Velostreifen. Trotzdem müssen mehrere Tausend Parkplätze aufgehoben werden, um ausreichende Breiten für das Nebeneinanderfahren und Begegnen zu ermöglichen, um Unfälle beim Öffnen von Autotüren zu vermeiden und ausreichende Sichtweiten zu gewährleisten.

Was erreichen Sie mit so schnellen Massnahmen und wie viel Bauen ist nötig?
Rupert Wimmer: Etwa siebzig bis achtzig Prozent der insgesamt über hundert Kilometer Velovorzugsrouten, schätze ich, können wir im bestehenden Strassenquerschnitt  umsetzen. Neben dem Abbau von Parkplätzen sind dazu je nach Situation auch Einbahnregimes und modale Filter nötig, also Durchfahrtssperren für den motorisierten Individualverkehr. Es geht darum, möglichst rasch etwas zu erreichen. Deshalb wollen wir schrittweise vorgehen: schnell mit einfachen Massnahmen Verbesserungen erreichen und wo nötig später baulich nachbessern. Bauen benötigt mehrere Jahre. Den Bucheggplatz zum Beispiel wird man einmal umbauen müssen. Vorläufig möchten wir wenigstens die Velostreifen, die zwischen den bis zu vier Fahrspuren liegen, an die Seite legen. Am Letzigraben, einer kommunalen Strasse, wäre es für das Velo am besten, den motorisierten Individualverkehr umzuleiten. Kurzfristig werden wir die Velostreifen vorerst verbreitern.

Wie wird das neue Netz signalisiert?
Rupert Wimmer: Diese spannende Debatte ist noch im Gang. Da treffen zwei Interessen aufeinander: hier Vortritt und Sicherheitsgefühl für Velofahrerinnen und Velofahrer, dort die Integration in die gewachsene Stadtgestalt. Wir könnten den Belag der Velovorzugsrouten rot einfärben wie in den Niederlanden oder beim laufenden Versuch in Winterthur. Sie werden dann im Stadtraum sehr dominant. Zudem hat Rot Gefahrencharakter. Und beim Unterhalt bedeutet dies, dass der Flick auch rot sein muss.
Als Pilotversuch soll die Route zwischen Affoltern und Oerlikon mit farbigen Markierungen sichtbar gemacht werden, mit sogenannten FGSO-Bändern. Der Fachausdruck FGSO steht für eine farbliche Gestaltung von Strassenflächen, die ausschliesslich der optischen Gestaltung des Strassenraums dient und das Verhalten im Verkehr nicht direkt beeinflussen darf. Die Farbe ist allerdings derzeit noch offen. Blau ist durch die Parkfelder der Blauen Zone besetzt. Bei uns steht im Moment Grün zur Debatte. Das wird noch nicht häufig bei Markierungen verwendet. Zudem wollen wir mit Piktogrammen in Form von grossen gelben Velos mit Richtungsangaben am Boden arbeiten, zum Beispiel alle 200 Meter und vor oder nach den wichtigen Knoten, sodass man rasch erkennt, wo die Route weitergeht.

Kaum nimmt das Velo in der Planung Fahrt auf, wird die Kritik laut, dass der öffentliche Verkehr leide. Wie gross ist der Konflikt in Zürich?
Rupert Wimmer: Die Stadt Zürich gewichtet den öffentlichen Verkehr hoch. Für uns ist klar: Fuss-, Velo- und öffentlicher Verkehr müssen miteinander funktionieren. Damit setzen wir uns planerisch in jeder Situation auseinander und versuchen, kreativ zu denken. Dank Verkehrsmanagement kann zum Beispiel eine Busspur aufgehoben oder situativ auch eine Busspur für den Veloverkehr geöffnet werden.

«Es braucht unbedingt nicht mehr Personal, sondern das richtige Mindset und den Konsens in Politik und Verwaltung.»

Ihre Arbeit wurde hart kritisiert: Zürich trödle mit der Veloinfrastruktur. Woran liegt es, dass sie jener in Bern, Basel oder Winterthur nachhinkt, und was unternehmen Sie dagegen?
Rupert Wimmer: Zürich hat sicher Aufholbedarf. Dies zeigte auch die letzte Bevölkerungsbefragung. Mit der Velostrategie 2030 und dem Vorzugsroutennetz haben wir die Strategie angepasst. Wir suchen breiter nach gesamtheitlichen Lösungen und addieren nicht einfach die Bedürfnisse des Veloverkehrs hinzu. Wir schaffen auch mit einfachen, schnell umsetzbaren Massnahmen Verbesserungen. Erschwert wird die Situation durch ein etwa im Vergleich zu Bern dichtes Netz an überkommunalen Strassen, wo wir die Zustimmung des Kantons benötigen. In letzter Zeit konnten wir aber auch da viel erreichen, die Velostation Europaplatz etwa oder die neue Langstrassenunterführung. Zudem haben sich Projekte verzögert: Ein Mythenquai, ein Sihlquai und der Stadttunnel unter dem Bahnhof werden wichtige Lücken im Velonetz schliessen.

Sie bekamen vom Stadtparlament ein Velokompetenzzentrum und sechs zusätzliche Stellen zugesprochen. Geht es jetzt schneller vorwärts?
Rupert Wimmer: Ein Stück weit sicher, da wir gleichzeitig mehr Projekte bearbeiten können. Doch um Parkplätze aufzuheben, benötigt man nicht mehr Personal, sondern das richtige Mindset und den Konsens in Politik und Verwaltung. Herausfordernd wird es, wenn stets das Maximum gefordert wird und es perfekt sein soll. Dann diskutiert man, anstatt auszuprobieren und vorwärtszumachen.

* Rupert Wimmer ist seit 2017 Leiter Verkehr und Stadtraum im Tiefbauamt der Stadt Zürich.

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