Vivian Maier: Die Frau, die Stadt, die Kamera Fotos: ©Vivian Maier/Maloof Collection, Courtesy Howard Greenberg Gallery, New York

Die Fotografin Vivian Maier in der Photobastei

Über 90'000 Negative fanden sich in ihrem Nachlass, als sie 2009 starb. Trotzdem blieb Vivian Maier zeitlebens eine der grossen Unbekannten der amerikanischen Fotografie. Die Photobastei bietet in einer exzellenten Ausstellung die Gelegenheit, ihr Werk zu entdecken. Kuratiert wurde sie vom Künstler und Fotokurator Daniel Blochwitz

. Rund 200 Aufnahmen wählte er aus. Sie stammen aus zwei Konvoluten von privaten Sammlungen. Die Rezeption der Fotografin, deren Nachlass per Zufall entdeckt, von öffentlichen Institutionen abgelehnt und vom Kunstmarkt verwertet wird, ist eine Operation am offenen Herz. Der Überblick über ihr Werk ist schwierig. Der Umfang wird auf über 150'000 Aufnahmen geschätzt, ein Grossteil ihres Werkes wurde nie gesichtet. In die Zwangsversteigerung 2007 gerieten neben Vintages und Negativen auch einige tausend unentwickelte Filmrollen. Drei Höchstbietende haben sie erworben, darunter der Immobilienbesitzer John Maloof und die Howard Greenberg Gallery.

So unerwartet und zufällig der Schatz gehoben wurde – der 2013 verstorbene Fotograf und Fotohistoriker Allan Sekula kaufte einige der von Maloof auf Ebay angebotenen Aufnahmen und erkannte die Qualität –, so verborgen arbeitete Vivian Maier zeitlebens. 1926 wurde sie in der Bronx geboren, als Tochter einer französischen Mutter und eines österreichischen Vaters, die sich bald zerstritten. Ihre Kindheit verbrachte sie in Südfrankreich, ab 1951 arbeitete sie als Verkäuferin, bald als Kindermädchen in New York, später in Chicago, wo sie unbekannt und völlig verarmt 2009 sterben sollte. Ihr Archiv hatte sie selbst geordnet und in einem Lagerraum aufbewahrt, solange, bis sie die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Erst ihre Todesanzeige, von einst von ihr gehüteten Kindern aufgesetzt, brachte ihre Identität ans Licht, ohne dass sie von den inzwischen recherchierenden Entdeckern ihres Werks noch hätte befragt werden können. 

Zu fotografieren begann sie mit einer kleinen Kompaktkamera, einer Brownie, in Frankreich. Später kaufte sie sich eine Rolleiflex, die ihr erlaubte, unauffällig und – wie es Daniel Blochwitz subtil in der Hängung der Arbeiten aufnimmt – auf der ungefähren Höhe eines Kinderauges zu fotografieren. Entstanden sind Aufnahmen, die eine genau auswählende, sichere, den richtigen Moment packenden Fotografin zeigen. Auf ihren Streifzügen durch die Stadt, manchmal begleitet von den Kindern, die sie hütete, bringt sie sich oft selber ins Bild: als Schattenriss oder in spiegelnden Fassaden und Schaufenstern. Daniel Blochwitz interpretiert diese Selbstporträts auch als Versuch, sich in einer unsicheren Existenz und andauerenden Heimatlosigkeit selbst zu verorten. Die genaue Beobachterin sozialer Ungleichheit nimmt aber ebenso präzise wahr, wie bereits Kinder – eines ihrer häufigsten Motive – in Habitus und Ausdruck von ihrer Herkunft geprägt sind. Ihr Blick auf Frauen ist weicher, verständnisvoller als der auf Männer. Ihr bevorzugter Ausschnitt ist die Halbtotale, Menschen sozial höherer Schichten fängt sie – verdeckt und unbemerkt – auch mal in Untersicht, aus dem sozialen Netz Gefallene in Aufsicht ein. Doch am liebsten richtet sie die Kamera direkt auf die Dargestellten. «Die Kamera diente ihr als Rammbock und Deckung zugleich», erklärt Kurator Daniel Blochwitz.

In den 200 ausgewählten Aufnahmen, die zum Teil noch nie gezeigt wurden, wird die Schwierigkeit einer einheitlichen Interpretation des Werks deutlich. Das hat auch damit zu tun, dass sich die Autodidaktin nie über ihr fotografisches Schaffen ausgetauscht und keinerlei Erklärungen noch Hinweise auf das, was ihr wirklich wichtig war, hinterlassen hatte. Das die Fotografie prägende Editing fehlt komplett. Das ist Risiko und Chance zugleich: Das Risiko, aus Gründen der Marktgängigkeit ein bestimmtes Bild dieser Ausnahmefotografin zu propagieren. Aber auch die Chance, sich in der Wertung ausschliesslich auf die hinterlassenen Aufnahmen zu beziehen, ihr Schaffen allein werkimmanent zu begreifen. Auch deshalb wäre es umso wichtiger, einen Überblick über das gesamte Werk zu gewinnen, bevor die Rezeption in die eine oder andere Richtung getrieben wird. Daniel Blochwitz vermittelt mit der Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit der KMS Fine Art Group entstand, die wichtigsten fotografischen Themen von Vivian Maiers enzyklopädischem Blick. Die Lücken, die zwischen den Bildern zu erahnen sind, faszinieren ebenso wie die einzelnen Aufnahmen.

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