Besser als ihr Ruf
Das Image der Designgeschichte des 19. Jahrhunderts ist schlecht. Zu unrecht, wie Beispiele des Historismus – der Zeit des mechanisierten Jacquardwebstuhls – zeigen.
«Das meiste ist verworrenes Formgemisch oder kindische Tändelei.» Seit der ersten Weltausstellung 1851 in London hallen diese warnenden Worte derjenigen nach, die sich über die mangelnde gestalterische Qualität industriell hergestellter Massenware beklagten. Einer von ihnen war der Architekt und spätere Professor am Zürcher Polytechnikum, der heutigen ETH, Gottfried Semper. Auf Objekten aller Art bemängelte er die beliebige und dem Zweck des Gegenstandes nicht angepasste Verwendung historischer Motive. Dagegen könne man nur mit einer fundierten Stilkunde ankämpfen, um angehenden Designern das Rüstzeug für wirklich gutes Gestalten in die Hände zu geben: «Styl ist das zu künstlerischer Bedeutung erhobene Hervortreten der Grundidee und aller inneren und äusseren Coeffizienten, die bei der Verkörperung derselben in einem Kunstwerke modificierend einwirken.»
Der leistungsfähige Jacquardwebstuhl
Was Semper kritisierte, wird heute als Historismus bezeichnet. Möglich gemacht hat den eklektischen, das 19. Jahrhundert prägenden Stil die Industrielle Revolution. Dank ihr konnten vormals von Hand hergestellte Konsumgüter massenhaft maschinell produziert und mit Ornamenten aus allen Epochen dekoriert werden. Besonders früh und deutlich trat dies in der Textilproduktion zutage. Dank dem um 1805 eingeführten Jacquardwebstuhl wurden Zugwebstühle obsolet. Bei denen hatte es noch mehrere Monate gedauert, bis eine geschulte Einleserin ein Design auf den Webstuhl brachte. Fortan übernahmen Lochkarten diese Arbeit. Sie konnten jeden Faden einzeln ansteuern und selbst die komplexesten Motive rascher umsetzen als je zuvor. Kein Wunder also, dass die allermeisten textilen Designsammlungen nur bis zur Einführung des Jacquardwebstuhls gesammelt haben und die Textilproduktion des 19. Jahrhunderts als handwerklich minderwertig vernachlässigten.
Eine Ausnahme bildet die Sammlung Ruf siehe ‹Die Sammlung Kamer-Ruf in Stans›. Neben einem umfangreichen Bestand an Textilien der frühen Neuzeit – darunter auch Spitzenwerke wie eine für Königin Marie-Antoinette hergestellte Seide – umfasst diese Kollektion auch sehr viele Textilien aus dem Historismus bis hin zu Originalen aus dem letzten Jahrhundert, etwa von Josef Frank oder Seidendrucke von Ettore Sottsass. Beispiele dafür sucht man in berühmteren Sammlungen wie der Abegg Stiftung in Riggisberg oder dem Metropolitan Museum in New York vergeblich.
Farbenprächtiger Historismus
Eine Auswahl von Textilien des 19. Jahrhunderts aus der Sammlung Ruf konnte für den vorliegenden Artikel fotografiert werden. Bereits bei der Auswahl standen wir – Hochparterre-Redakteurin Lilia Glanzmann, Fotograf Lorenz Cugini und der Autor – vor der Qual der Wahl: Wolfgang Ruf öffnete eine Schublade nach der anderen mit immer noch farbenprächtigeren Objekten. Schliesslich haben wir zehn Stoffe aus der Zeit zwischen Anfang und Ende des 19. Jahrhunderts ausgewählt.
Sie gewähren einen faszinierenden Einblick in die bisher kaum beachtete Vielfalt der Textilproduktion im Zeitalter des Jacquardwebstuhls: starke Farben und einfache, aber eindrückliche Designs mit Raffinesse. Die gut erhaltenen Stoffe zeigen, dass neben der Ornamentik vor allem die Farbkombinationen des Historismus spektakulär sein konnten. Wer käme sonst auf die Idee, ein Giftgrün mit einem satten Rot zu kombinieren? Ein elegantes, rot-blau-türkis-schwarzes Karomuster strahlt derart intensiv und irisierend, als wäre es eigens für Vivienne Westwood entworfen. Und ein in Zitronengelb und Pink gehaltener Baumwollsamt passt in seiner auffälligen Farbigkeit in ein Disco-Interieur der 1970er-Jahre. Die Stichprobe verdeutlicht: Auch im Zeitalter des Jacquardwebstuhls gab es fortschrittliche Textildesigner, deren Entwürfe zu unrecht und viel zu lange nicht beachtet wurden. Sie wieder zu entdecken, lohnt sich – nicht nur, um die Epoche besser zu verstehen, sondern auch als Inspirationsquelle für zeitgenössisches Design.
Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe 3/2019 der Zeitschrift Hochparterre.
Die Sammlung Kamer-Ruf in Stans
Der deutsche Kunsthändler Wolfgang Ruf hat zusammen mit dem Schweizer Kostümdesigner Martin Kamer in den letzten Jahrzehnten bedeutende Textilsammlungen zusammengetragen. Nach wichtigen Verkäufen von Kostümsammlungen an das Berliner Kunstgewerbemuseum und das Los Angeles County Museum of Art besitzen beide heute eine weitere Kostümsammlung. Wolfgang Ruf verfügt über eine umfangreiche Sammlung von Flachtextilien. Die Kostüme decken den Zeitraum vom 1710 bis 1920 ab, die Stoffe gar die Jahre 1450 bis 2010. Kostüme wie Flachtextilien sind vor allem aus Europa, wobei der Grossteil der Objekte aus Frankreich stammt, dem wichtigsten europäischen Modezentrum. Die Sammlung befindet sich in Stansstad im Kanton Nidwalden und kann auf Anfrage besichtigt werden.