Warum muss ein intelligentes Buch eine so modische Gestaltung erdulden? Die Titelschriften sind reine Leserbekämpfung, so der Stadtwanderer.

Wir sind Touristen nur auf dieser Welt

Ist der Tourismus philosophisch haltbar? Benedikt Loderer hat sich die Frage bei der Lektüre von «Über Tourismus» gestellt. Der Katalog zur Ausstellung im Architekturzentrum Wien ist eine Bestandesaufnahme.

Der Tourismus ist die Lepra des Erdballs! donnerte der Stadtwanderer und besorgte sich ein Buch, das seine schlechte Meinung bestätigen sollte. Wie immer, wenn man etwas aus der Nähe anschaut, wird es schwierig, weil die Dinge so bemühend differenziert sind. Aber nur Mut, was kann am Tourismus schon gut sein? Will sich jemand für Kreuzfahrtschiffe wehren, jemand das Shopping-Hopping-Fliegen verteidigen oder gar den Overtourism loben? Gehen Sie, geneigte Leserin, aufgeklärter Leser, noch nach Venedig oder in den Louvre? Sicher nicht, denn mit dem Reisepöbel will unsereins nichts zu tun haben.  

Ich persönlich bin ja kein Tourist. Fahre ich, nicht fliege, nach Fabriano oder Quedlinburg, so tue ich das aus städtebaulichem Interesse. Treffe ich dort Schweizer an, so verleugne ich meine Herkunft, die Landsleute könnten mich ja für einen Touristen halten. Nein, ich bin ein Bildungsreisender und verachte jeden Schweizer im Ausland, es sei denn, er arbeite dort. Den Touristen verachten selbst jene, die von ihm leben, die vor allem.


Das Architekturzentrum Wien machte eine Ausstellung «Über Tourismus», dessen heimlifeisser Titel mich amüsierte und dessen Katalog vor mir auf dem Tisch liegt. Es geht um den österreichischen, der aber verzweifelte Ähnlichkeiten mit dem schweizerischen hat, beide Male geht’s um die Alpen. Der Tourismus folgt dem Grundsatz: öfter, kürzer, weiter, was zu Übertourismus führt. Venedig ist unterdessen ein Konsumgut. Leider konzentrieren sich die Besucher heute immer mehr auf die Fünfsternorte, wer nullstern ist, trocknet aus, die Bewohner wandern ab. Zum Klimawandel ist kein Wort nötig, es genügt festzustellen: Die Schneegrenze steigt und die Skilifttage sinken. Die Kühe, Wölfe und Touristen leben im Kleinkrieg nebeneinander oder wie geht’s der Landwirtschaft, da, wo der Tourismus blüht? Der Gast will das, behaupten die Beizer, sie rüsten auf, bauen aus. Braucht es dazu noch Architektur? Naturgenuss ist erhebend, aber eigentlich nur, wenn er exklusiv ist. Die Meute macht die Schönheit kaputt, darum muss man sie privatisieren. Und ganz am Schluss: Was hat das alles mit der Planung zu tun?


Das ist in Stichworten das Menu, das mir vorgesetzt wird. Es ist eine Bestandesaufnahme. Zu jedem der acht Gänge werden Beispiele aus dem Leben serviert. Die Autoren bemühen sich, das allgemein Festgestellte mit konkreten Beispielen zu untermauern. Neben den erwarteten Schreckensbildern – Ischgl ist überall! –  gibt’s auch viele Trosthäppchen. Die Ausstellungsmacher suchten in ganz Österreich die guten Projekte heraus, die sie uns nun präsentieren. Nicht alles ist schlecht im Alpenbogen. Häppchen trotzdem, denn die Rosinen im Teig machen das touristische Schlamm-, Schwamm und Schaumbrot nicht chüstiger. Andersherum, es steckt viel schlechtes Gewissen still in diesem Buch. Viel Information auch, ich wünschte mir eine solche Ausstellung und einen solchen Katalog auch für die Schweiz.


Am Ende des Buchs las ich acht Aufsätze, die den Tourismus von einer höheren Warte nochmals untersuchen. Warum reisen wir? Der Tourismus ist ein eskapistischer Reparaturbetrieb, wir fliehen aus dem Hamsterrad in die Hängematte. Ein neues Wort habe ich dabei gelernt: chronokratisch. Alle haben wir ungefähr gleich wenig Auszeit. Dazu noch: «Sehnsucht bezeichnet einen Zustand der Unterversorgung».


Wir sind privilegiert. «Reisen ist ein Elitenprogramm. Weltweit verbrauchen zehn Prozent 70 Prozent der Flugenergie.» Du sollst nicht fliegen, trifft nur für eine vernachlässigbare Minderheit auf dieser Erde zu. Haben alle Menschen das Recht, zu reisen wie wir, reiste bald niemand mehr.


Beeindruckt hat mich ein Bericht aus Lissabon, wo der Tourismus die Stadt umgepflügt hat. Stichworte: Airbnb, Verdrängung, steigende Mieten und Preise, kurz das was die Betreiber freut und die Ansässigen plagt. Eine Aktivistin kommt zum Schluss: «Kommen sie nicht nach Lissabon – oder überhaupt an irgendeinem anderen Ort – als entfremdeter Tourist! Seien sie sich das Schadens bewusst, den Sie anrichten. Der Tourismus verschlingt unsere Orte und Gemeinschaften – helfen Sie mit, das zu stoppen!»


Ja, Architektur kommt auch noch vor in diesem Buch des Architekturzentrums. Es wird uns das bekannte Minderheitenprogramm vorgeführt, der Strauss der guten Bauten, den die Architekten gepflückt haben. Sie haben die Nadeln im Heuhaufen gefunden, den Haufen damit aber nicht weggeschafft. Es ist die Rechtfertigung der Architekten vor der Schlechtigkeit des Bestands. Merke: Wer Tourismus sagt, muss immer eine quantitative Betrachtung machen.  


Aber wir leben davon, ohne wären wir verarmt und zum Auswandern gezwungen! Eine Dreigenerationenfamilie schildert den Werdegang ihres Hotels von der Kleinpension bis zum Ressort. Die Facts of Tourism kann ich nicht hochnäsig unter den Tisch wischen. Es sind keine abstrakten Kennzahlen, sondern das Resultat von jahrzehntelanger Aufbauarbeit. Der Tourismus keine Statistik, er wird von Menschen gemacht und betrieben. Wie heiter sind die Zukunftsaussichten wirklich?  


Am Schluss ist da noch der Elefant im Raum. «Der Tourismus ist sowohl ein Hauptverursacher des Klimawandels als auch einer der am stärksten betroffenen Wirtschaftsfaktoren.» Die Schneekanone ist das Wahrzeichen dafür. Tourismus ohne Klimaschäden ist nicht zu haben. Wohlstand ohne Tourismus ebenso wenig. Niemand weiss wirklich wie weiter. Wir stehen ratlos am Berg und hampeln.


Frage noch: Warum muss ein intelligentes Buch eine so modische Gestaltung erdulden? Die Normalseiten und die Bilder sind zwar anständig, die poppigen Pfeile, Knallbonbons, Farbanschläge hingegen sind aufgesetzt und kindliche Grafikerlaune. Die Titelschriften sind reine Leserbekämpfung. Tieffett und zu eng gesetzt verschwimmen die Abstände zwischen den Buchstaben, die Überschriften wurden aus der Tube gedrückt.


So viel «Über Tourismus». Doch da hat eine Fussnote mich irritiert. Sie verweist auf «Eine Theorie des Tourismus» von Hans Magnus Enzensberger, 1958 geschrieben. Ich suchte das ziegelrote edition suhrkamp-Bändchen Nr. 63 heraus und wurde beschämt. Dort ist zwar sein berühmter Satz «Der Tourismus zerstört das, was er sucht, indem er es findet», nicht wörtlich zu finden. Eine Abreibung für Tourismusverächter hingegen schon. «Was Kritik zu sein vorgibt, erweist sich als Reaktion im doppelten Sinn des Wortes. Gesellschaftlich reagiert sie auf die Bedrohung oder Vernichtung ihrer privilegierten Stellung. Implizit verlangt sie, das Reisen solle exklusiv sein, ihnen und ihresgleichen vorbehalten bleiben.» Ich übersetze: Tourismus ist ein Menschenrecht. Ist es Lepra auch?

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