Aufbruchstimmung nach dem Kater

Luganos Baukultur hat nach den saftigen Jahren der Tessiner Schule schwierige Dekaden durchlebt. Doch die Situation wendet sich zum Besseren. Eine Spurensuche aus Hochparterres Themenheft zur Stadt.

Fotos: Simone Bossi
In Zusammenarbeit mit der Stadt Lugano

Luganos Baukultur hat nach den saftigen Jahren der Tessiner Schule schwierige Dekaden durchlebt. Doch die Situation wendet sich zum Besseren. Eine Spurensuche aus Hochparterres Themenheft zur Stadt.

Die ehemalige Banca del Gottardo steht leer. Ein Relikt aus einer anderen Zeit. Als Lugano florierte. Als das Geld floss, auch in die Architektur. Und so starke Bauten ermöglichte wie die 1988 eröffnete Bankenburg von Mario Botta. Doch die Zeiten haben sich geändert. Ökonomisch, die Banken sind geschrumpft. Und architektonisch. Auf die Hochphase der Tessiner Schule folgte – abgesehen von einigen Ausnahmen und Prestigebauten wie dem Kulturzentrum Lugano Arte e Cultura, kurz LAC – eine nüchterne Epoche der spekulativen Architektur.

Wer durch Lugano geht, trifft auf viele markante Gebäude, von den Palazzi aus dem 19. Jahrhundert bis zu den Wuchtsbauten der 1980er-Jahre. Die Tendenza hallt immer noch nach. Doch was in den letzten Jahren gebaut wurde, kann nicht an die Qualität der Ära Mario Botta, Rino Tami, Livio Vacchini und Aurelio Galfetti anschliessen. Viele architektonische Verirrungen der Schweiz sieht man in der grössten Stadt des Tessins wie in einem Brennglas. Backstein und Beton sind oft dem Aussenputz gewichen. Statt durch Arkaden, geht man Zäunen oder Hecken entlang. Baugespanne umstellen prächtige Gebäude der 1970er-Jahre. Dass die Situation in der Gemeinde Paradiso noch schwieriger ist, bleibt ein schwacher Trost.

Die Suche nach Antworten beginnt in der Vergangenheit. Gegenüber der Banca del Gottardo sitzt das Istituto Internazionale di Architettura i2a in einer Villa, von denen es einst im Quartier viele gab. «Lugano zerstörte und erneuerte sich immer wieder», sagt die Direktorin und BSA-Präsidentin Ludovica Molo, die sich mit dem i2a seit 2006 für die Baukultur engagiert und öffentliche Veranstaltungen im Auftrag der Stadt zum neuen Richtplan der Stadt organisierte. «Man spürt wenig von der Vergangenheit.» Lugano wurde erst spät zur Stadt und hat keine Blockrand-Quartiere aus dem 19. Jahrhundert, da es keine Industrie gab, die die Stadtentwicklung forcierte. Gewachsen ist die Stadt erst 100 Jahre später, in den 1960er- und 1970er-Jahren. Heute gibt es viel zu tun, so Molo. «Wir müssen die grünen Achsen stärken, Autos durch Trams ersetzen, die öffentlichen Räume wiederbeleben. Die Politik ist gefordert.» Da die Stadt wenig Geld hat, geht es auch darum, die nötigen Anreize für private Initiativen zu schaffen.

Das ehemalige Schlachthofareal ex Macello soll sich für die Kultur öffnen.

Frust und Forderungen

Mit jeder Eingemeindung wuchs Lugano. «Doch das war ein politisches, kein natürliches und städtebaulich geplantes Wachstum», sagt der Architekt Felix Wettstein. «Das Stadtgebiet ist fast unkontrollierbar gross und divers. Und die Verwaltung ist vergleichsweise klein. Die Bevölkerung hat das Gefühl, dass sie eher in einer Stadtlandschaft statt in einer Stadt lebt.» Die Topografie ist Segen und Herausforderung. Sie ermöglicht die Aussicht, segregiert aber die Stadt: Die Reichen wohnen am Hang, die Armen in der Ebene. Bei den Immobilienpreisen sei der Standort entscheidend, nicht die Architektur, so Wettstein. «Die Qualität der Architektur wird ökonomisch noch viel zu selten genutzt.» Auch besitzt die Stadt zu wenig Land, um den Markt zu beeinflussen. Dennoch blickt der Architekt grundsätzlich positiv in die Zukunft. «Es gibt viel Nachholbedarf. Die Themen und Probleme sind erkannt und der Richtplan liefert eine gute Basis.» Die grosse Frage ist, ob die Politik genug Power und den langen Atem für die Umsetzung hat. «Ich bin vorsichtig optimistisch.»

Viele Architektinnen und Architekten verlassen ihre Stadt und ihren Kanton. Die Ausstellung ‹Expat Ticino› im i2a handelt davon. Wer mit jenen spricht, die hier geblieben sind, spürt in den Antworten Enttäuschung und Ernüchterung. Die Themen wiederholen sich: Es brauche mehr öffentlichen Raum und weniger Autos. Die Wettbewerbskultur müsse gefördert werden. Die Stadt solle eine aktivere Rolle einnehmen und die Bauherrschaften in die Pflicht nehmen. Zwischennutzungen und Baurechtsverträge sollen keine Fremdwörter mehr sein.

Einer, der zurückgekommen ist, um an der Stadt zu arbeiten, ist der junge Architekt Tiziano Schürch von Studioser. «Die Tätigkeit als Architekt in Lugano ist spannender, weil sie politisch ist: Man muss an den Bedingungen der Architektur arbeiten», sagt Schürch. So sei zum Beispiel die Wettbewerbskultur heute viel besser als noch vor ein paar Jahren. In seiner Masterarbeit in Raumplanung an der ETH untersuchte er Lugano und war an den öffentlichen Veranstaltungen zum Richtplan im i2a beteiligt. Die Fehler aus der Vergangenheit liessen sich nicht ungeschehen machen, aber korrigieren, sagt er. «Es geht nicht um die architektonischen Objekte, sondern um den öffentlichen Raum, die Erdgeschosse, die privaten Vorzonen, das Dazwischen.» In einer Stadt der Einbahnstrassen, Verbotstafeln und «Privat»-Schilder kein einfaches Unterfangen. «Lugano möchte eine Stadt sein, also muss sie sich um den öffentlichen Raum kümmern.»

Der Architekt Giorgio Giudici war von 1984 bis 2013 sagenhafte 30 Jahre Luganos Bürgermeister, was nicht unbedingt zur Vielfalt und Diskussionsfreude beitrug. Damals konnten Projekte oft noch direkt vergeben werden. So kam auch der Architekt Gino Boila zu einem seiner ersten Aufträge für Lido und Hafen. Seit 2018 ist Boila Leiter der Abteilung für öffentliche Bauten bei der Stadt. «In meinen ersten fünf Amtsjahren stellten wir ein paar wenige Bauten fertig», erzählt er. «Die Projekte sind oft schon veraltet, wenn sie eröffnet werden.» Die Mühlen der Politik scheinen im bürgerlich regierten Lugano besonders langsam zu mahlen: Oft dauert es nach einem Wettbewerb viele Jahre, bis die Planung weitergeht. Andere Projekte landen in der Schublade. «Die Architektinnen und Architekten blicken optimistisch in die Zukunft, und auch die Bevölkerung hat Lust auf Veränderung», sagt Boila. «Doch die Politik ist noch zu zögerlich.»

In Lugano gibt es drei öffentliche Abteilungen, die sich mit dem Planen und Bauen befassen, was in der Vergangenheit oft zu Widersprüchlichkeiten in der Gestaltung des Raumes führte. Bei seinem Amtsantritt rief Boila die ‹Gruppo territorio› ins Leben, die die drei Ämter koordiniert. Einen Stadtarchitekten kennt Lugano nicht. Seit einem Jahr gibt es nun aber eine Stadtbildkommission, besetzt mit externen Fachleuten. Die Strukturen werden angepasst und professionalisiert. Auch das macht Hoffnung.

Im Stadtzentrum stehen viele Bauten aus der Boomzeit leer. Die SUPSI untersuchte in einer Studie, wie sich Bürobauten in Lugano fürs Wohnen umnutzen liessen. Eine neue Statistik gibt einen detaillierten Überblick über alle Leerstände in der Stadt. «Die Verdichtung ist ein sekundäres Thema in Lugano», sagt Gino Boila. «Erst müssen wir die leerstehenden Bauten wieder nutzen.» Seit Jahren wird darüber diskutiert, in der ehemaligen Banca del Gottardo das Kantonsgericht unterzubringen. Doch die Kosten dafür sind hoch, die Politik ist uneins.

Lugano baut an seiner Zukunft mit neuem Elan.

Eine Stadt, die gerne neu baut

Lugano und allgemein das Tessin sind ein schwieriges Pflaster für den Wohnungsbau, zumal die Bevölkerung der Stadt seit zehn Jahren nicht mehr wächst. Es gibt wenige Wettbewerbe in dieser Sparte, kaum Genossenschaften, und die öffentliche Hand baut selber auch keine Wohnungen. Die meisten privaten Bauherrschaften setzen auf Rendite und nicht auf Baukultur. Ausnahmen wie die Überbauung an der Via Cortivo von Herzog & de Meuron bestätigen diese Regel. Monique Bosco-von Allmen kämpft seit Jahren im ganzen Tessin für mehr gemeinnützigen Wohnungsbau. Die Präsidentin der ‹Cooperative d’Abitazione Sezione Svizzera Italiana› (Cassi) organisiert Reisen nach Zürich, Winterthur, Bern oder Basel, um von den dortigen Vorbildern zu lernen. Sie macht Druck auf Gemeinde- und Kantonsebene. «Es ist schwierig, die Dinge zu ändern», sagt sie. «Man sieht die Probleme nicht. Unter anderem auch, weil die Daten zu den Wohnkosten fehlen.» 2015 habe die Stadt Lugano einen Fonds mit 10 Millionen Franken für das gemeinnützige Wohnen eingerichtet. Was mit dem Geld geschehen soll, wisse sie aber bis heute nicht. «Es braucht mehr gemeinnützigen Wohnraum. Die Preise sind so hoch, dass viele Leute wegziehen.»

Doch es kommt Bewegung in das Thema. 2022 veranstaltete die Wohngenossenschaft ‹Vivere Lambertenghi› zum ersten Mal einen Wettbewerb für günstige Wohnungen in der Stadt. Das Büro Farra Zoumboulakis & associés gewann mit einem Holzbau, der Lugano konstruktiv wie wohnpolitisch vorwärtsbringen wird. Bereits 2017 ging die Stadt mit gutem Beispiel voran, um die Wettbewerbskultur zu beleben, und veranstaltete für die Aufstockung des Schulgebäudes Viganello einen Wettbewerb für unter 40-Jährige. Das sensible Projekt von Inches Geleta belebte den Diskurs. Und zeigte den Wert des Umbauens auf in einer Stadt, die gerne neu baut.

2023 veranstaltet die Stadt gleich zwei wichtige Architekturwettbewerbe. Einer sucht nach Vorschlägen, um das Funicolare degli Angioli beim LAC wieder in Betrieb zu nehmen. Ein zweiter Wettbewerb läuft für die Umgestaltung des Piazzale ex Scuole, die zukünftige Haltestelle der neuen Tramlinie. Ein weiteres Verfahren von der Stiftung ‹Conservatorio della Svizzera Italiana› will den RSI-Sitz umbauen, um Lugano zur einer «Stadt der Musik» zu machen. All diese Wettbewerbe machen Hoffnung, dass sich die Baukultur nachhaltig zum Besseren verändert.

Blick vom aufgestockten Schulhaus Viganello über die Stadt.

Von grossen Gesten und kleinen Interventionen

Das LAC war 2015 der letzte Meilenstein der Ära Giudici. Das Kulturzentrum hat der Stadt viel gebracht, auch wenn die Meinungen hinsichtlich der Architektur auseinandergehen. Zehn Jahre nach der Eröffnung des LAC gibt es bereits Pläne für einen zusätzlichen Saal für 300 Personen. Doch wo bleibt das Gegenstück zur Hochkultur? Bisher fehlt im Tessin ein Ort nach dem Vorbild der Reithalle in Bern oder der Roten Fabrik in Zürich.

Eine Antwort darauf liefert das Projekt ex Macello auf dem denkmalgeschützten Schlachthofareal. Das Umbauprojekt von Durisch Nolli ist ein Lichtblick in der aktuellen Debatte um Umnutzung, Ressourcen und Identität. Allerdings ist die politische Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Schlachthofareal aufgeladen. 2021 wurde das autonome Sozialzentrum auf dem Areal in einer tumultuösen Nacht abgerissen. Die Polizei räumte das besetzte Areal, seither ist es für die Öffentlichkeit geschlossen. Die Architektin Pia Durisch hofft, dass die Planung bald weitergehen kann. «Das LAC ist eine gute Sache. Aber es braucht daneben auch Räume für die alternative Kultur.» Ein jüngeres Publikum anzuziehen, würde zu Luganos Bildungsstrategie passen, die auf die Gründung der Università della Svizzera italiana 1996 zurückgeht.

Luganos Planung ist eine Geschichte der grossen Gesten. Doch die Aufwertung der Flussmündung des Cassarate vor zehn Jahren zeigte, dass man auch mit kleineren Interventionen viel erreichen kann. «Die Stadt hat lange auf Grossprojekte wie das LAC und das Stadio di Cornaredo gesetzt», sagt Pia Durisch. «Aber auch ein Park oder ein Spielplatz sind wichtig für die Stadt.» 2023 wurde im Cornaredo-Quartier ein altes Bauernhaus, die Masseria di Cornaredo, umgebaut und zu einem öffentlichen Ort gemacht. Auch die Aufwertung des Parco Viarno geht in diese Richtung. Die Architektin wünscht sich mehr Mut von der Stadtregierung. «Es ist schwierig, in Lugano als Architektin oder Architekt zu arbeiten. Wir sind deshalb oft anderswo tätig. Aber wir lieben diese Stadt.»

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