Die Markthalle des Schlachthofs wie in der Diplomarbeit geplant (‹Actornetwork›-Zeichnung Lowis Gujer)

Eine Stadt ohne Schlachthof?

In seiner Diplomarbeit zum Zürcher Schlachthofareal stellt ETH-Abgänger Lowis Gujer die Frage nach der Wahrnehmung der Fleischproduktion in der Stadt.

Vor einem Jahr hat der Zürcher Stadtrat über die Zukunft des Schlachthofareals zwischen Hardgut-, Hohl-, Herdern- und Baslerstrasse entschieden: Die heutige Ankermieterkonstellation bestehend aus dem Schlachtbetrieb Zürich, der Metzgerei Angst und dem Gastronomie-Markt ‹Frischeparadies› soll aufgelöst werden. Der Stadtrat stützt sich auf einen Bericht, der anhand von zwanzig unterschiedlichen Nutzungen die raumplanerischen und denkmalpflegerischen Vorgaben sowie die Bedürfnisse der Nachbarschaft auslotet. Die Studie sieht Varianten vor, in denen der Schlachtbetrieb weiterbesteht und solche, die mit seinem Wegzug arbeiten.


Der Schlachthof in Zürich-Altstetten im Bau. Archivbild von 1907. (Foto: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich)

Bis zur Errichtung des Erweiterungsbaus 1985 waren die Tiere vor dem Schlachthof für Passanten leicht zu sehen. (Foto: Stadtarchiv Zürich)

Der Erweiterungsbau aus dem Jahr 1985 (Foto: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich).

Die Verbindungshalle des Schlachtbetriebs von Innen (Foto: Stadtarchiv Zürich)

Mit dieser Entscheidung befasst sich meine Diplomarbeit über die Markthalle des Schlachthofs Zürich, die ich im Frühling dieses Jahres am ETH-Lehrstuhl ‹Architectural Behaviorology› bei Momoyo Kaijima verfasst habe. ‹Architectural Behaviorology› steht für eine holistische Architekturpraxis, die Gebäude, Natur und Mensch in dynamische Relationen durch Raum und Zeit setzt. Sie analysiert die Verhaltensweisen der unterschiedlichen Akteure und ermittelt eine architektonische Intervention. In Anlehnung an die ‹Actornetwork›-Theorie von Bruno Latour werden die Analyse und die Intervention durch ‹Actornetwork›-Zeichnungen dargestellt. Als Studierende sind wir aufgerufen, neue und verlorene Lebensweisen und räumliche Alltagspraxen des 20. und 21. Jahrhunderts unter die Lupe zu nehmen. In meinem Fall wendete sich mein Blick auf die vergangenen Schlachthöfe der Stadt Zürich.

Die Geschichte des Areals
Die Grundsteine der bestehenden Anlage in Zürich-Altstetten wurden 1909 unter der Planung des deutschen Architekten Gustav Albert Uhlmann gelegt. Davor hatten die Schlachter ihren Arbeitsplatz für vier Dekaden auf dem Walche-Areal gegenüber des Platzspitz und noch früher lag der Schlachthof neben der ehemaligen Fleischhalle direkt neben dem Rathaus limmataufwärts. Das Schlachten befand sich also mitten im städtischen Geschehen des mittelalterlichen Zürichs. Die Nähe zum Wasser war aus hygienischen Gründen wichtig und die zentrale Lage vereinfachte den Zugang zum Viehmarkt und zur Fleischhalle. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Schlachthof ins ländliche Altstetten verlegt. Heute ist Altstetten alles andere als ländlich, so dass sich der Schlachtbetrieb wiederum von einem lebhaften Stadtteil umgeben sieht.


Das Modell des in der Diplomarbeit geplanten Schlachthofareals. (Foto: Lowis Gujer)


Meine Diplomarbeit versucht, das Areal und seine Umgebung städtebaulich neu zu denken. Die baulichen Gegebenheiten zeigen einen wilden Mix aus alt-industriellen Backstein-Typologien entlang der Hohlstrasse, dem Ende des Blockrandbaus entlang der Herdernstrasse, und dem Anfang des Wohnhochhauses entang der Baslerstrasse. Zusammen mit dem Letzigrund-Stadion ergeben die Voraussetzungen einen Experimentierraum, der mich veranlasste, die Hallentypologie des Industriebaus mit der strassenraumfassenden Charakteristik des Blockrands zu kombinieren. Das Projekt schlägt also einen Städtebau vor, der den Strassenraum bekräftigt, die bestehenden Achsen ins Areal einbindet und gleichzeitig die Vorteile der grosszügigen Hallenbauten aufnimmt. So entstehen Räume, die für die unterschiedlichen Bedürfnisse des städtischen Kontextes genutzt werden können.

Die städtebauliche Ausgangslage
Aktuell gilt der nordwestliche Teil des Perimeters baurechtlich als separates Areal und ist als neuer Standort für das Stadtarchiv und die Zivilschutzwache vorgesehen. Den dazu in diesem Jahr veranstalteten Projektwettbewerb hat das Architekturbüro Adrian Streich gewonnen. Der stadträtliche Beschluss will das Schlachthofareal zum Quartier hin öffnen und somit die bestehenden Mietverträge Ende 2029 nicht mehr verlängern. Die denkmalgeschützten Backsteingebäude sollen erhalten bleiben und für Freiräume, eine Schule und urbanes Gewerbe genutzt werden. Das Projekt befindet sich momentan in einer Testplanung, die bis 2024 läuft.

Der Wunsch zur Öffnung des Areals seitens der Stadt ist verständlich und die Notwendigkeit einer Veränderung der aktuellen Situation unbestritten. Wer heute den Schlachthof besucht, darf zwar durch die eindrucksvolle Verbindungshalle spazieren, nimmt den eigentlichen Schlachtbetrieb aber fast nicht wahr. Seit den Erweiterungsarbeiten von 1985 wird im metallverkleideten Stahlbetonbau geschlachtet, sodass von Aussen – abgesehen von den ankommenden Viehtransportern – kaum ein Haar der Tiere zu sehen ist. Je nach Windrichtung hört und riecht man die Tiere, aber sonst hat sich die Schlachtbetrieb komplett von seinem urbanen Kontext abgeschirmt und sich von den öffentlichen Debatten über Fleischkonsum oder Vegetarismus distanziert.


Das Schlachthofareal im urbanen Kontext. (‹Actornetwork›-Zeichnung Lowis Gujer)

Grundriss der Markthalle wie in der Diplomarbeit geplant (Plan: Lowis Gujer)

Konstruktives Detail der geplanten Markthalle (links) und der existierenden Verbindungshalle (rechst). (Zeichnung Lowis Gujer)

Als Stadtbevölkerung sollten wir uns meiner Ansicht nach ein gewisses Bewusstsein für die Prozesse hinter unserem Fleischkonsum erarbeiten. Hinter jedem Stück Fleisch steckt ein Leben und diese Tatsache sollte in der Stadt greifbarer werden. Die Öffnung des Areals und die Transparenz des Schlachtbetriebes könnten zu einem tiefgründigeren Verständnis des Wertes von Fleisch führen und einen nachhaltigeren und ausgewogenen Konsum anregen. Ich wünsche mir eine neue Lebensweise, die sich an eine Ältere anlehnt: Das Schlachten als Teil des Alltäglichen im städtischen Dasein.

Die urbane Wahrnehmung der Fleischproduktion
In meiner Diplomarbeit habe ich versucht, diese Gratwanderung zwischen Fleischproduktion und öffentlichem Austausch anhand einer architektonischen Intervention zu erarbeiten. Das Projekt schlägt eine Perforierung des Areals mit öffentlichen Nutzungen vor und beleuchtet gleichzeitig die Geschichte des Ortes und die Entwicklung des Schlachtprozesses. Mithilfe von ‹Actornetwork›-Zeichnungen illustriert meine Arbeit wie ein respektvoller Umgang und eine emotionale Beziehung zwischen Stadtmenschen, Schlachter:innen, Bäuer:innen und nicht zuletzt den Tieren durch architektonische Eingriffe gefördert werden könnte. Dafür ist es zentral, die Fleischproduktion und ihren Ablauf erlebbar zu machen. Der Schlachthof wird weitgehend wiederhergestellt und unter anderem durch eine Markthalle ergänzt. Sie steht in einem formalen Zusammenhang mit der Verbindungshalle und bildet deren Gegenstück. Das großzügige Gebäude ist aus natürlichen und atmenden Materialien gebaut und fungiert als neuer Treffpunkt innerhalb des Komplexes und für die Nachbarschaft.

Mit meinem Projekt möchte ich die Entwicklung des Schlachthofareals in die lokale Diskussion einbringen und fragen: Ist es die richtige Entscheidung, die Fleischproduktion aus der urbanen Wahrnehmung zu verbannen?


Für Studierende nur 9 Franken im Monat – das Hochparterre Digital-Abo. Jetzt abonnieren!

close

Kommentare

Jürg Ziegler 08.12.2023 15:34
Fragezeichen im Titel weg - eine Stadt steht zu ihrem Schlachthof! Keine Verdrängung des mit dem Fleischkonsum verbundenen Handwerks aus der Stadt, sondern ein reflektierter, die vorhandene Substanz respektierender Vorschlag. Herzliche Gratulation zu dieser ideologiefreien, auch städtebaulich überzeugenden Diplomarbeit, die hoffentlich ihre Spuren in der erwähnen Studie hinterlässt.
Andreas Konrad 18.11.2023 23:45
Eines der besten Projekte der letzten Jahre in Zürich. Wenn auch im Moment noch virtuell. Städtebaulich hervorragend mit überlegtem Stift, klärt und adelt es mit klugem Strich die Perle des alten Schlachthofes, sie heilt mit dem Blockrand das Gebrösmel rund ums Letzistadion, zieht den bestehenden vielmehr weiter Richtung Westen und weiss mit der Markthalle einen neuen, öffentlichen Raum zu schaffen, wo jetzt nur ungenutzter Verlegenheitsraum brachliegt. Den Menschen zeigen, wie ihr Fleisch hergestellt wird, es zu zelebrieren statt zu verstecken: Eine weitere Meisterleistung. Es wird zur Wertschätzung beitragen. Denn klar ist: 99.2 Prozent aller Schweizer isst Fleisch. Der Anteil Veganer ist auch 2023 stagnierend (0.8%). Deshalb können wir den Fleischkonsum nicht verbieten. Wir können aber, und das zeigt dieses Projekt in fast schon französischer Selbstverständlichkeit, die Städter wieder näher ans « Geschehen » bringen, ein neues « Quartier des Halles » schaffen. Das, was verloren ging, die selbstverständliche Symbiose zwischen Mensch und Nutztier, wieder neu erklären und zeigen. Fazit: Da war kein angehender modernistischer ETH - Technokrat am Werk, sondern einer, der sein Handwerk in Zukunft hervorragend machen wird.
Peter Zweigelt 18.11.2023 14:30
Gratulation zum Abschluss. Ein Konzept, das die "Fleischproduktion" (eigentlich ist das ja Destruktion, nicht Produktion) dem Publikum näherbringen möchte, würde allerdings sofort durch die Industrie kooptiert. Das Resultat wäre eine Propaganda-Institution für die Fleischindustrie, die kritisches Denken hindert statt fördert. Spannend ist hingegen die Idee, die Geschichte des Ortes und des dort stattfindenden Tötens zu erinnern. Kommende Generationen werden die heutige Fleischindustrie vermutlich als groteske Gräueltat verbuchen. Je früher wir mit der Vergangenheitsbewältigung beginnen, desto besser.
Kommentar schreiben