Der zweite Frühling des Herman Hertzberger

Partizipation, Sharing, Re-Use: Prägten diese Ideen nicht schon einmal die Architekturdebatte? Eine kritische Spurensuche in den Niederlanden und der Schweiz.

Fotos: Dugald Gardner

Partizipation, Sharing, Re-Use: Prägten diese Ideen nicht schon einmal die Architekturdebatte? Eine kritische Spurensuche in den Niederlanden und der Schweiz.

Letzthin sass ich in der Bauakademie Amsterdam und hörte einen Vortrag von Herman Hertzberger. Das ist insofern bemerkenswert, als Herman Hertzberger mittlerweile 90 Jahre alt ist. Erstaunlicher aber als seine zweifellos erstaunliche Vitalität ist die Renaissance der Ideen, die er seit gut 60 Jahren vertritt. Den anwesenden Architekturstudierenden der Hochschule Luzern jedenfalls schien der freundliche Herr direkt aus der Seele zu sprechen. Es begann mit einer Fundamentalkritik an der Architektur mit grossem A («only for the rich, always looking for power»), am Architekten alter Schule («god-like») und an gängigen Prozessen im Planungs- und Bauwesen («a top-down-affair»), und es endete nach gut einer Stunde mit der ehrlichen Verwunderung darüber, dass die von ihm propagierten Alternativen aus den 1960er- und 70er-Jahren im aktuellen Architekturdiskurs plötzlich wieder relevant sind («the miracle that happens to me»).

Dazwischen tauchten auf der Leinwand all die Bilder auf, die man irgendwann schon einmal gesehen hat, irgendwo in einem Architekturbuch oder einer Zeitschrift: die junge Familie, die den Arbeitsplatz im Büro für das gemeinsame Abendessen nutzt, die fläzenden Kinder, die eine breite Schultreppe als Treffpunkt und Spielplatz in Beschlag nehmen, die Studierenden, die einen Laubengang für ein Come-together mit Kaffee und Zigaretten nutzen, das junge Hippiepärchen, das mit Mörtel und Betonblöcken am eigenen Haus weiterwerkelt, schliesslich unzählige Sockel, Wandvorsprünge und Nischen, die die Bewohner oder Passanten so oder anders nutzen können, auf alle Fälle aber spontan.

Das Büro als kollektiver Raum: So lebte es sich in den 1970er-Jahren im Versicherungsgebäude Centraal Beheer. (Foto: Willem Diepraam, Archiv Herman Hertzberger)

Hier konnte man selber weiterbauen: Diagoon-Häuser in Delft, 1971. (Foto: Herman Hertzberger, Archiv Herman Hertzberger)

Renaissance des Laubengangs

Die Schlüsselideen dazu lauten: Polyvalenz der Struktur, Möglichkeit der Interpretation und Appropriation, Kultivierung des Schwellenraums zwischen innen und aussen, zwischen öffentlich und privat. Die Absicht dahinter: Verbesserung der Welt über die Förderung des zwischenmenschlichen Austauschs, des Gemeinsinns und der individuellen Ausdrucksmöglichkeiten.

Dass solche Ideen im Jahr 2022 auf fruchtbareren Boden fallen als auch schon, kann angesichts der allgemeinen Stimmungslage wenig verwundern. Bemerkenswert ist, dass sie auch bestimmte Form- und Raumvorstellungen nach sich ziehen, die gestern und heute die gleichen sind. Die inzwischen historischen Bauwerke zu besichtigen, die in den Niederlanden unter der Bezeichnung Strukturalismus entstanden sind (als Architekten zu nennen wären neben Hertzberger natürlich Aldo van Eyck, aber auch Theo Bosch oder Piet Blom), ist eine merkwürdige Erfahrung. Man fühlt sich nämlich ständig in eine Wirklichkeit gewordene Visualisierung aus der aktuellen Schweizer Wettbewerbsszene versetzt. Stellt man sich anstelle des Betons eine Holzstruktur vor, sind die Parallelen verblüffend – von der äusseren Erscheinung, die lieber offenes Raumgefüge sein will als repräsentative Form, über die Vorliebe für 45-Grad-Geometrien, Kreisformen, strukturiert-organische Grundrisse und gezielt gesetzte Signalfarben bis hin zur Omnipräsenz des Laubengangs. Letzterer steht wohl symptomatisch für die kollektivistische Wende, von der die Schweizer Architektur ergriffen wurde und die insbesondere beim genossenschaftlichen Wohnungsbau handfeste Folgen zeitigt. Galt der Laubengang noch vor wenigen Jahren als erschliessungstechnische Notlösung mit nicht zu tilgenden Nachteilen für die dahinter liegenden Wohnungen, ist er heute zum Signum einer für Nachbarschaftsbeziehungen und Gemeinschaftlichkeit sensibilisierten Architektur geworden, zum Inbegriff all der Begriffe, die den aktuellen Diskurs bestimmen: In-Between, Sharing, Partizipation.

Ein Gefühl von Zuhause: Herman Hertzbergers Apollo-Schulen in Amsterdam.

Treppen als Teil der kommunikativen Architektur in den Apollo-Schulen.

Vor Ort in den Niederlanden, im Angesicht der konzeptionellen Klarheit und gedanklichen Grösse mancher Bauten, kommt mir Stanislaus von Moos in den Sinn, der Anfang der 1980er-Jahre mit Blick auf die helvetischen Varianten des «menschlichen» und «kommunikationsfreundlichen» Bauens geschrieben hatte: «Aber welch ein poetischer Flügelschlag bei den Holländern und welch knopfäugige Schulmeisterei bei den Schweizern!» Vielleicht trifft das in Teilen auch auf die heutige Situation zu.

Die Klimakrise redet mit

Das moralische Hintergrundrauschen ist jedenfalls nicht leiser geworden, was damit zu tun hat, dass die gesellschaftlichen Anliegen heute mit den ökologischen Hand in Hand gehen. Liest man den ‹Climate Action Plan› (CAP) der Klimastreikbewegung etwas genauer, wird man feststellen, dass das Thema «Gebäude und Raumentwicklung» sich nicht nur um das berühmt gewordene Neubau-Moratorium, um Heizsysteme oder Baumaterialien dreht, sondern mit einer ziemlich klaren Vorstellung davon aufwartet, wie wir in Zukunft leben sollten: «2030», heisst es dort, «wird unser Alltag weit weniger vom lauten, rücksichtslosen und gehetzten Getriebensein geprägt sein als vielmehr von einem Leben, das auf Nähe, nachbarschaftlicher Hilfe, solidarischer Organisation und belastbaren Beziehungen vor Ort basiert. Die Wege sind kürzer, der Austausch bedeutungsvoller. Wir haben wieder gelernt zuzuhören und Bedürfnisse zu teilen. Und wir teilen noch viel mehr: seien es Wissen und Kompetenzen in Nachbarschaftskollektiven, Bohrmaschinen und Lastenvelos aus Teil- und Leihorten oder Erfahrungen und lecker duftende Apfelwähe im Nachbarschaftscafé.»

Je nach persönlichen Lebensvorstellungen kann es einem in diesem zum System erhobenen Paradies der Partizipation zugegebenermassen etwas bang werden. Hertzbergers Ideen haben durch den ökologischen Imperativ eine neue Dringlichkeit erhalten, werden aber auch zu einer einförmigen Vorstellung vom richtigen Leben verkürzt. Gleichzeitig lässt sich der Social Turn in der Architektur nicht allein auf die Klimakrise zurückführen. Zumindest im Kontext des hiesigen Architekturschaffens ist die Hinwendung zum sozialen Raum auch eine Sättigungserscheinung: Nach Jahren des beflissenen Referenzierens war es einer jüngeren Generation nicht nur etwas langweilig geworden, wahrscheinlich dämmerte ihr auch, dass solche Schöngeisterei auf keine der aktuelleren Fragen eine vernünftige Antwort zu geben imstande war, sondern eher einer entfesselten Immobilienwirtschaft zudiente. Verschwunden ist der retrophile Hang hingegen nicht, er hat sich nur einem anderen Thema zugewendet. Denn auch für sozial engagierte Architekturschaffende gibt es eine Epoche und damit einen Stil, auf den sich referenzieren lässt. Wir wissen: Man findet ihn in den Niederlanden. Man findet ihn aber auch in der Schweiz.

Schwellenraum aus Farben und Formen: Aldo van Eycks Hubertushuis in Amsterdam.

Der Laubengang als Gemeinschaftsraum: Hertzbergers Studentenwohnhaus in Amsterdam.

Selbstbeschreibungen der Schweizer Architektur

«Was gibt es bitte Neues?», argwöhnte die Architektin Kaschka Knapkiewicz diesbezüglich. «In den aktuellen Architekturwettbewerben sieht man vor allem Kopien früher Metron-Projekte, mit Laubengängen, Holzskelett und Aneignung.» siehe ‹Zwischen Garten und Gleismeer›, Themenheft von Hochparterre, August 2022 Für Knapkiewicz, die gemeinsam mit ihrem Partner Axel Fickert in den 70er-Jahren an der ETH studierte, muss es ein seltsames Déjà-vu sein: Hatte man diese Ansätze nicht mit erleichtertem Seufzen in der Schublade versorgt? Neben dem Architektenkollektiv Metron tauchen auch andere Namen aus dem Halbdunkel der Geschichte auf: Fosco Fosco-Oppenheim Vogt mit ihren ‹Wohnkommunen im Grünen›, Rolf Keller mit seiner Kritik am ‹Bauen als Umweltzerstörung› und natürlich der Doyen helvetischer Planungskritik, der Soziologe Lucius Burckhardt. Sie alle erfreuen sich eines neu erwachten Interesses. Und sie teilen die Vorstellung von einem alternativen menschlichen Zusammenleben, zu dem das Gebaute zwar beitragen sollte, das sich ansonsten aber zurückzuhalten hatte. Hinter das Angebot der Teilhabe und Aneignung, hinter die mehr oder weniger subtilen Anreize zwischenmenschlichen Austauschs mussten formale Interessen zwangsläufig zurücktreten. «Ob etwas schön ist oder nicht, hat uns eigentlich nie interessiert», vermerkte kürzlich Jacqueline Fosco in einem Interview mit ‹Zeitgeschichte Aargau›. Noch heute wohnt die Architektin in der von ihr mitentworfenen alternativen Siedlung Auf dem Höli im Aargauer Dorf Scherz.

Nun wird es Zeit, dass auch in dieser Geschichte Aldo Rossi um die Ecke schaut – der sagenhafte Maestro aus Mailand, zu dem sich die Schweizer Architektenschaft mit merkwürdigem Eifer in Verbindung zu setzen sucht. Die geneigte Leserschaft wird das Narrativ kennen: Auf eine Phase des trockenen theoretischen Diskutierens, der soziologischen Feldforschung, des kapitalismuskritischen Opponierens gegen die Auswüchse des Baubooms, auf die ganze papierene Schwere der 68er-Debatten folgten mit Aldo Rossi die freudvolle Rückkehr an den Zeichentisch und die Wiederentdeckung der Sinnlichkeit des Bauens; an die Stelle theoretischer Konzepte traten der Reichtum der Architekturgeschichte, Typologien und Monumente. Und auch wenn die Episode ‹Rossi an der ETH› reichlich kurz war und nur ein Bruchteil der damals Studierenden tatsächlich seinen Kurs besuchte, gibt es in der Selbstbeschreibung der Schweizer Architektur seither eine ‹Rossi-Generation› und eine ‹Nach-Rossi-Generation›, mit deren Wirken scheinbar alle nennenswerten Entwicklungen der vergangenen 50 Jahre abgedeckt werden können. Über die versprengten Vertreter partizipativen Bauens darf man währenddessen grosszügig hinwegsehen – sie machten schliesslich keine Architektur.

Die sich abzeichnende Götterdämmerung scheint unterdessen aber auch der BSA bemerkt zu haben. So liest man im Jahresprogramm der Zürcher Sektion, das den bezeichnenden Titel ‹Paradigmenwechsel› trägt: «In einer Konjunkturflaute hat die sog. ‹Rossi-Generation› die Schweizer Architektur in einem kollektiven Akt radikal und mit wehenden Fahnen erneuert. Seit 40 Jahren schreiben wir dank anhaltender Hochkonjunktur still und individuell an ihrem Kanon weiter. [ …] Nun eröffnet die Klimakrise mit Vehemenz den Schritt in eine ‹neue Epoche›.»

Amsterdamer Symphonie aus Balkonen und Laubengängen: Wohnbaukomplex Pentagon von Theo Bosch und Aldo van Eyck.

Der andere Aldo

Eine Geschichte kann man bekanntlich so oder anders schreiben. Zur selben Zeit wie Aldo Rossi lehrte auch Aldo van Eyck als Gastprofessor an der ETH Zürich – neben Hertzberger die zweite grosse Figur des niederländischen Strukturalismus. Der Aldo aus Amsterdam konnte den Aldo aus Mailand nicht leiden, versah ihn regelmässig mit Schmähschriften. Für van Eyck, der sich mit anthropologischen Konstanten im Erleben von Raum und Zeit beschäftigte, war die Arbeit mit Typologien, wie sie Aldo Rossi publikumswirksam vorführte, bloss eitler Hokuspokus, ein «falsches Spielchen mit der Geschichte». Auch eine mögliche Lesart.

Über die Zeit und den Einfluss van Eycks an der ETH ist wenig bekannt. Im Unterschied zu Aldo Rossi gibt es weder eine hübsche Publikation, die seinem Einfluss in der Schweiz nachgehen würde, noch zwei Stararchitekten, die sich in regelmässigen Abständen an den Unterricht bei ihm erinnern. Immerhin weiss man von Kaschka Knapkiewicz, dass van Eyck ihr «eine Welt eröffnet hat, die mich heute noch trägt». Über verschlungene Wege jedenfalls und ohne nachvollziehbare Genealogie etabliert sich im jungen Schweizer Architekturschaffen gerade so etwas wie eine ‹Nach-nach-van-Eyck-Generation›. Der zweite Frühling des Herman Hertzberger wäre dann auch der zweite Frühling seines schwierigen und weniger freundlichen Mentors und Kollegen.

Zum Weiterbauen und Umnutzen gedacht: Centraal Beheer im Jahr 2022.

Verlassene Ikone des Strukturalismus: Aus dem Bürogebäude Centraal Beheer in Apeldoorn soll in den nächsten Jahren der Wohnkomplex Hertzberger Park werden.

Das strukturalistische Versprechen

Herman Hertzberger notabene ist gerade etwas nervös. Teil des strukturalistischen Versprechens war ja neben der Appropriation durch die Nutzenden auch die Adaptabilität an verschiedene Nutzungen: So, wie eine Treppe auch Bühne sein darf, so soll ein Schlafzimmer auch Wohnraum sein können und umgekehrt. Ob dies aber wie behauptet auch für den grossen Massstab gilt, wird sich noch weisen. Der aufsehenerregende Präzedenzfall ist das Versicherungsgebäude Centraal Beheer in Apeldoorn, eine Ikone des Strukturalismus und ein Vorzeigebeispiel dafür, wie eine offene, aber artikulierte Struktur zu einer lebendigen Vielfalt von Aneignungen durch Büroangestellte führt. Seit dem Auszug der Versicherung tüftelt das Büro Hertzberger gemeinsam mit MVRDV an Plänen zur Umnutzung in eine Wohnstruktur, wobei die schieren Dimensionen und die Lichtverhältnisse dem Vernehmen nach einige Probleme bereiten.

Bis auf Weiteres steht das Gebäude leer. Eine enorme künstliche Landschaft auf gigantischen Stützen, ein Labyrinth, ein Haus als Stadt. Oder einfach ein Stück Architektur? Jedenfalls wirkt es auch ohne Menschen ziemlich beeindruckend.

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