Der Geruch nach gebranntem Zucker

Rund 200 Meter lang ist die Produktionsanlage von Isover im waadtländischen Lucens. In einem Tag wird dort aus Altglas fixfertiges Dämmmaterial. Ein Besuch am Geburtsort der Glaswolle.

In Zusammenarbeit mit Isover

Rund 200 Meter lang ist die Produktionsanlage von Isover im waadtländischen Lucens. In einem Tag wird dort aus Altglas fixfertiges Dämmmaterial. Ein Besuch am Geburtsort der Glaswolle.

Berge von zerbrochenem Fensterglas, geschredderten Glasflaschen und kaputten Autoscheiben – das Rohstofflager neben dem Eingang der Glaswolle-Fabrik von Isover im waadtländischen Lucens macht eher den Eindruck eines grossen Recyclinghofs als den eines Industriebetriebs, der hochwertige Dämmstoffe herstellt. In der Tat wird auf dem gegen 20 Fussballfelder messenden Werkareal Recycling im grossen Stil betrieben – wobei Upcycling es besser trifft. Denn die zerbrochenen Scheiben, Fenstergläser und Flaschen bilden 80 Prozent des Rohmaterials für die Produktion der Dämmplatten und -matten, die später schweizweit in Gebäuden verbaut werden. Zum Altglas kommen vor dem Schmelzen noch Zuschlagstoffe wie Soda und Feldspat dazu, um die gewünschte Qualität der Endprodukte zu erreichen. Gut 70 Tonnen gebrauchtes Glas verarbeitet Isover täglich, die Vorratsberge beim Eingang reichen jeweils für vier bis fünf Tage. Ein Pneulader verfrachtet das Material portionenweise in die angrenzende Produktionshalle, wo es mit den Zuschlagstoffen gemischt und dann in die 1200 Grad heisse Schmelzwanne befördert wird.

Glasscherben sind das Ausgangsmaterial der Glaswolle. Foto: Isover

Betrieb rund um die Uhr
Drinnen in der Halle ist es vorbei mit der Atmosphäre eines Recyclinghofes. Hier steht man mitten in der riesigen Produktionsanlage, einem 200 Meter langen Ungetüm, dessen Ende man vom Halleneingang aus kaum sehen kann. Nur ein paar wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Helm, Sicherheitsschuhen, Schutzbrille und Gehörschutz sind unterwegs, der Betrieb scheint fast autonom zu funktionieren. Gerade mal jeweils zwölf Frauen und Männer braucht es pro Schicht des rund um die Uhr laufenden Betriebs. «Da wir mit flüssigem Glas und Temperaturen um die 1200 Grad arbeiten, können wir die Anlage nicht einfach am Abend ab- und am Morgen wieder anstellen», sagt Aurélien Luhmann, Ingenieur, Marketing-Direktor und Geschäftsleitungsmitglied bei Isover. Während draussen der kalte Novembernebel im Flusstal der Broye hängt, ist es in der Halle dank der heissen Schmelzwanne angenehm warm. In der Luft hängt ein Geruch nach Kilbi, eine Mischung aus heisser Zuckerwatte, gebrannten Mandeln und Caramel. Der süsslich-gebrannte Geruch kommt nicht von ungefähr: Das umweltfreundliche pflanzliche Bindemittel, das bei einem Grossteil der Platten und Matten eingesetzt wird, besteht aus Zucker.

Ein Basler will Glasseide herstellen
Auf dem Areal neben dem Bahnhof Lucens wird schon seit 1938 Glaswolle produziert. Doch fast wäre es gar nicht dazu gekommen. Die Geschichte begann 1933 im benachbarten Seigneux bei Henniez. Dort hatte der frisch aus Basel zugewanderte Jean Gränicher die Firma Verisolant SA gegründet. Sein Ziel war es, gemäss dem damaligen Firmenbeschrieb, «Glasseide herzustellen in all ihren Formen und Anwendungen als Wärmeisolierung». Doch Gränichers Idee erlitt rasch Schiffbruch. Das Produkt war dazumal in der Schweiz eine Neuheit; es fehlte an Fachkenntnis, um ein industrielles Verfahren zu entwickeln. Nach vier Jahren war Gränichers Kapital aufgebraucht und Verisolant meldete Konkurs an. Der Jungunternehmer liess sich aber nicht unterkriegen und kontaktierte auf der Suche nach neuen Investoren die Manufactures des Glaces et Produits St. Gobain in Frankreich. Die Wurzeln des Unternehmens reichen zurück zu König Ludwig XIV., der 1665 in St. Gobain die königliche Glas- und Spiegelfabrik gegründet hatte. Die französischen Glasspezialisten erkannten das Potenzial von Gränichers Unternehmen für den Schweizer Markt, brachten Geld sowie Know-how ein und gründeten im Oktober 1937 die Fibres de Verre SA, die später Fibriver hiess und 1987 in Isover umbenannt wurde. Ein Jahr nach der Gründung startete die Produktion auf dem heutigen Fabrikgelände in Lucens.

Firmengelände von Isover, Ende der 1960er-Jahre. Foto: Archiv Isover

Seit ihrer Gründung 1937 hat Isover den Produktionsprozess laufend weiterentwickelt und immer wieder neue Anlagen gebaut. Die einstige Glasseide heisst heute Glaswolle und ihre Herstellung umfasst eine Abfolge von thermischen, chemischen, physikalischen und mechanischen Prozessen. Diese können variiert werden, sodass sich auf derselben Anlage unterschiedliche Dämmprodukte herstellen lassen. Justierbar sind dabei etwa Eigenschaften wie Rohdichte, Wärmeleitfähigkeit oder Druckfestigkeit. Grundlage ist immer geschmolzenes Glas.

1200 Grad und sechs Zentrifugen
Die Kommandozentrale neben dem Schmelzbecken steuert den Schmelz- und den anschliessenden Zerfaserungsvorgang, bei dem die extrem feinen Glasfasern entstehen. Ein riesiges, grün gestrichenes Bedientableau mit zahlreichen Schaltern, Leuchten und Displays nimmt eine ganze Wand ein und erinnert an Kraftwerk-Zentralen aus alten James-Bond-Filmen. Die Schalter würden zwar noch funktionieren, gesteuert werden die Prozesse heute aber an Bildschirmarbeitsplätzen in der Raummitte. Die grossen Displays zeigen die Temperatur im 25 Quadratmeter grossen und rund ein Meter hohen Schmelzbecken an. Darin befinden sich mehrere Tonnen 1200 Grad heisses, flüssiges Glas. Über beheizte Kanäle fliesst es aus dem Becken heraus, wird auf die für den Prozess optimale Temperatur von gut 1000 Grad gebracht und anschliessend in sechs Zentrifugen zerfasert. Der Vorgang gleicht dem der Zuckerwatteherstellung: Das flüssige Glas tropft in mit mehreren tausend Umdrehungen pro Minute rotierende Zentrifugen und wird durch tausende dünne Löcher in deren Seitenwänden herausgepresst. Dabei entsteht ein feines Vlies aus Glasfasern.

Aus flüssigem Glas werden Glasfasern.

Flüssiges Glas wird in der Zentrifuge zerfasert.

Dieses wird mit dem Bindemittel besprüht, gleichmässig auf dem 2,5 Meter breiten Förderband der Produktion verteilt und in zahllosen Schichten gut 50 Zentimeter dick übereinandergelegt. Zu diesem Zeitpunkt ist die Glaswolle noch fast weiss. In einem weiteren Schritt wird nun die Struktur des Materials durch Druck und Bewegung so verändert, dass es die gewünschten Eigenschaften erhält. Das endlose Band aus rohem Dämmmaterial verschwindet anschliessend in einem rund 45 Meter langen Heissluftofen. Bei 250 Grad verklebt das Bindemittel dort zuerst die Fasern miteinander – Polymerisation nennen Fachleute diesen Prozess, der den karamellartigen Geruch erzeugt. Danach wird das Rohprodukt auf natürliche Weise heruntergekühlt und auf die gewünschte Dicke gepresst.

Die Arbeit ‹à la fibre› ist für viele in Lucens und Umgebung ein fester Bestandteil des Lebens.

Herstellung von Baumatten, auch «Matratzen» genannt, 1950.

Tüfteln für eine bessere CO2-Bilanz
Gleich gegenüber dem Ofen befindet sich das Büro von Jérôme Rodriguez. Der 48-Jährige mit den auffällig tätowierten Armen ist einer der beiden Qualitätsverantwortlichen in der Produktion. Er hat ursprünglich Elektriker gelernt und stiess vor 25 Jahren zu Isover. Sein geschultes Auge erkennt beim Blick aufs Förderband meist rasch, ob alles wie gewünscht läuft. Um sicher zu sein, entnimmt er Proben und prüft, ob diese allen Vorgaben genügen. «Falls nötig, kann ich die Produktion stoppen oder anpassen lassen», sagt Jérôme Rodriguez. Zu seinen Aufgaben gehört die Zusammenarbeit mit dem Ingenieurteam, das an neuen Produkten oder an der Verbesserung des Herstellungsprozesses tüftelt. Produktionsingenieurin Léa Billion ist Teil dieses Teams. Das Büro der 26-jährigen Französin befindet sich ebenfalls in Sichtweite der Produktionslinie. Billion arbeitet seit drei Jahren bei Isover und kam über ein Förderprogramm des Mutterkonzerns hierher. «Mir gefällt hier die grosse Abwechslung bei der Arbeit», sagt Billion. Sie kümmert sich um die laufende Verbesserung der Produktionsabläufe, der CO2-Bilanz und des Energieverbrauchs, genauso wie um die Arbeitssicherheit. Dabei hat sie den ganzen Ablauf von der Ofenlinie bis zur Palettierung im Auge. «Mein Ziel ist, dass wir möglichst gute Produkte herstellen können, die auch ökologisch überzeugen», sagt Billion. Das passt zur Überzeugung des Unternehmens: Um seine Ökobilanz zu verbessern, hat Isover in den vergangenen 15 Jahren grosse Anstrengungen unternommen. Einen Schwerpunkt bildet dabei die Reduktion des CO2-Ausstosses für die Herstellung, denn die Saint-Gobain-Gruppe hat sich verpflichtet, bis ins Jahr 2050 CO2-neutral zu produzieren. Isover selbst ist es gelungen,seinen Energieverbrauch durch angepasste Prozesse in den letzten zehn Jahren um 15 Prozent zu senken. Ausserdem bezieht das Unternehmen seit 2013 nur noch lokal produzierten Strom aus Wasserkraft, und die Photovoltaikanlage auf den Fabrikdächern und Fassaden steuert jährlich 1,5 Gigawattstunden bei. Zum Umwelt-Engagement gehören auch das Verwenden von 80 Prozent Altglas seit über 30 Jahren, das 2011 eingeführte pflanzliche Bindemittel, ein geschlossener Wasserkreislauf für die Produktion, die Verwendung von Abwärme für die Beheizung der Gebäude oder das Recyceln von Glaswolle-Abfällen aus der Produktion. «Wir haben dieses Engagement lange nicht an die grosse Glocke gehängt, daher weiss man in der Baubranche oft gar nicht, dass wir hier in vielen Bereichen zu den Pionieren gehören», sagt Marketing-Direktor Aurélien Luhmann. Unterdessen bewirbt Isover aber aktiv die Nachhaltigkeit seiner Produkte.

Die Robotertechnik hat in den Produktionshallen von Isover Einzug gehalten. Foto: Philippe Weissbrodt

Für die 2023 auf den Markt gebrachte Weltneuheit Isorigid wurde eine neue Produktionsanlage nötig. Foto: Philippe Weissbrodt

Vor der Bürotür von Produktionsingenieurin Léa Billion rollt das Dämmmaterial auf dem Förderband unablässig aus dem Ofen. Durch die Polymerisation des Bindemittels hat die Glaswolle nun einen hellbraunen Farbton, durchläuft weitere Produktionsschritte und wird schliesslich zugeschnitten: Mit einem 3000 Bar starken, hauchdünnen Wasserstrahl zerteilt die Schneidmaschine das Material auf dem Förderband der Länge nach – in zwei Bahnen à 1,2 Meter für rollbare Matten und in vier Bahnen à 60 Zentimeter für Platten. Dank der Verwendung von Wasser staubt der Zuschnitt nicht und es gibt auch keine Klingen, die gewechselt werden müssen. Eine Station weiter erhalten die Rollen und Platten ihre finale Länge. Danach wird das fertige Material platzsparend gepresst und in Kunststofffolie gepackt – je nach Produktlinie als Rolle oder gestapelte Platten. Über Förderbänder gelangen die fertigen Produkte schliesslich ins benachbarte Speditionsgebäude. Die Reise des Altglases vom Vorratsberg beim Arealeingang bis hierher hat knapp einen Tag gedauert, am meisten Zeit beansprucht der Schmelzprozess.

Platten und Matten nach Mass
Ein Teil der abgepackten Platten und Matten zweigt auf dem Förderband nach links ab und landet gleich neben der Produktionslinie in einer daran angebauten Halle. Sie ist das Reich von Toni Tavarone. Sein Team schneidet hier Platten und Rollen nach Kundenwunsch auf Mass zu. Ein Angebot, das sehr gefragt ist: «Wir konfektionieren täglich mehrere hundert Pakete Dämmmaterial», sagt Tavarone. Der 38-Jährige arbeitet seit 19 Jahren «à la fibre – mit der Faser», wie die Mitarbeitenden selbst ihre Arbeit gerne bezeichnen. Schon Toni Tavarones Grossvater, sein Vater, seine Mutter und seine beiden Onkel waren bei Isover angestellt und eine Cousine hat ebenfalls zeitweise hier gearbeitet. Die Arbeit «à la fibre» ist für viele in Lucens und Umgebung ein fester Bestandteil des Lebens und der familiäre Charakter überall im Betrieb zu spüren. In den Hallen oder Büros duzen sich die 170 Mitarbeitenden unabhängig von der Position im Unternehmen.

Dämmplatten, fotografiert von Patrik Fuchs.

Jene Platten und Rollen, die nicht bei Toni Tavarone landen, werden in der Speditionshalle von einer vollautomatischen Anlage möglichst platzsparend auf Paletten geladen und wasserfest eingepackt. Per Gabelstapler gelangen die Paletten dann zur offenen Lagerfläche neben der Halle, wo sie auf den Abtransport warten. Je nach Auftragslage fahren täglich zwischen 20 und 50 Lastwagen vor, um die Produkte aufzuladen. Koordiniert werden die Aufträge vom Kundendienst-Büro. Dessen Mitarbeitende nehmen Bestellungen entgegen, organisieren den Transport und verschicken Rechnungen. Dabei kann es durchaus mal hektisch zu und her gehen und Organisationstalent ist gefragt: «Immer mehr Bestellungen treffen sehr kurzfristig ein – trotzdem finden wir fast immer einen Weg, damit die Ware am gewünschten Termin auf der Baustelle ist», sagt David Neuhaus vom Kundendienst. Mit Blick auf die kurzfristigen Bestellungen hat Isover die Produktion, die Lagerhaltung und die Logistik so ausgelegt, dass 80 Prozent der Produkte innerhalb von 48 Stunden geliefert werden können. Damit die Lager immer gleichmässig gefüllt sind, läuft jede Stunde ein anderes Produkt aus dem Sortiment über die Produktionsstrasse. So ist sichergestellt, dass die einstigen Autoscheiben, Fenstergläser und Wasserflaschen nach dem Upcycling ihr zweites Leben als Dämmstoff irgendwo in einem Gebäude pünktlich antreten können.

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