Biodiversität messen

Der Hof des Hortus-Gebäudes in Allschwil ist ein Pilotprojekt der Initiative ‹Siedlungsnatur gemeinsam gestalten›, die Biodiversität fördern will. Um sie zu messen, wurde ein System mit Kennwerten entwickelt.

Fotos: Urs Sutter
In Zusammenarbeit mit Senn

Der Hof des Hortus-Gebäudes in Allschwil ist ein Pilotprojekt der Initiative ‹Siedlungsnatur gemeinsam gestalten›, die Biodiversität fördern will. Um sie zu messen, wurde ein System mit Kennwerten entwickelt.

Fast wäre Hortus ein Fortus geworden. Das radikal nachhaltige Gebäude war zunächst ohne Freiraum oder Lichthof angedacht, die Landschaftsarchitektur in der entscheidenden Anfangsphase daher gar nicht im Planerteam. Denn Freiraum findet im Baselink-Areal zwischen Allschwil und Basel vor allem auf den Dächern und in der grünen Mitte statt. Der Masterplan hat grossflächige Baufelder beidseits einer breiten Freiraumachse aufgereiht, die zugleich die grüne Verbindung zwischen Basel und Allschwil und den Freiraum für das Areal bildet.

Doch Fragen der Belüftung, der Baubiologie und der Lichtbehaglichkeit, der Kühlung und des Regenwassermanagements führten zur Kehrtwende auf dem Baufeld A2: Ein kleiner, grüner Innenhof wurde zum Herzen des Hortus erkoren. Mit der Einführung dieser grünen Mitte kam das Thema Biodiversität auf, lange vor der Gestaltungsfrage. Denn bei Hortus gilt: Form follows Figures – das Projekt sollte nach Kennzahlen zur Nachhaltigkeit entwickelt werden; radikal, ambitioniert, aber machbar. Diese Vorgabe von Johannes Senn führte zu einer Umkehrung der gängigen Arbeitsweise, auch im Freiraum. So galt es nicht, ein Gestaltungskonzept zu entwickeln und darin Ziellebensräume und CO2-bewusste Bauweisen einzubinden, sondern nachhaltige Bauweisen und Ziellebensräume zu definieren und dann der Hofgestaltung hinzuzufügen.

«An sich sind wir zu spät ins Projekt gekommen. Es war schon zu vieles fixiert, als dass wir für die Biodiversität noch Grosses hätten bewirken können. Das vorgesehene Solardach liess keine Dachbegrünung zu, sämtliche Fassaden waren mit Solarpanels besetzt, der Hof war klein und isoliert», sagen die Biologin Manuela Di Giulio und die Geographin und Raumplanerin Katrin Hauser von ‹Siedlungsnatur gemeinsam gestalten›. Die Initiative hat sich die wissenschaftlich fundierte Förderung von Biodiversität im Siedlungsraum auf die Fahne geschrieben und betreut verschiedene Pilotprojekte. Das Team, zu dem auch Danièle Martinoli vom Forum Biodiversität Schweiz gehört, hat die Herausforderung dennoch angenommen – nicht zuletzt wegen der Möglichkeit, über diesen Pilot die Biodiversität in den generellen Abläufen der Projektentwicklung bei Senn zu implementieren.

Im Winterzustand tritt die kargere Ästhetik laubloser Gehölze, trockener Gräser und Fruchtstände und weniger immergrüner Pflanzen in den Vordergrund.

Der Hof ist als nicht begehbare Wasserlandschaft mit einer umlaufenden Grünzone konzipiert.

Vertikales Grün weist den Weg
Für den Hortus-Innenhof haben sie zunächst ein Biodiversitätsförderkonzept entwickelt – und die Erweiterung des Perimeters angeregt. Nur unter Einbezug der Nachbarschaft sahen sie die Möglichkeit einer angemessenen ökologischen Vernetzung des kleinen Hoflebensraums. Auch konnten sie die Hoffassaden zurückerobern: Vertikales Grün anstelle der zunächst vorgesehenen Solarpanels wird Vögeln und Insekten den Weg in den isolierten Hof und aus ihm heraus weisen. Amphibien dagegen werden bewusst nicht gefördert. Der Hof und die angrenzenden Strassen könnten für sie auf ihren Wanderungen zu Todesfallen werden, denn das Gebäude ist zwar aufgeständert, doch der Bereich unter dem Baukörper für viele Amphibien laut den Spezialistinnen kaum überwindbar.

Auf Basis einer Analyse der Ökosysteme, Lebensraumtypen und Arten der Umgebung wurden also die Ziellebensräume und -arten für den Hof festgelegt. Daraus und aus den Anforderungen des Regenwassermanagements ergab sich der Auftrag für die Gestaltung, den man Urs Sutter, einem Gartengestalter mit Sinn für Zahlen, übergeben hat. Seine Visualisierungen erinnern an die Naturgartenbewegung der 1980er-Jahre. Geplant ist ein Wassergarten mit offenen Wasserflächen, temporär überfluteten Bereichen und wechselfeuchten Uferzonen, um sie herum eine üppige Wildnis aus grossenteils heimischen Pflanzen. Ein in sich gekehrter, von den umgebenden fünf Stockwerken beschatteter Garten, der auf 280 Quadratmetern ein Naturbild nachzuzeichnen versucht.

Gerahmt wird er vom sommergrünen Vollbart der Fassaden: Schattenverträgliche, wuchskräftige Kletterer wie Hopfen, Waldrebe oder Geissblatt sollen dereinst bis zum fünften Stock ranken, im Sommer zur Beschattung des Innenraums beitragen, im Winter Licht ins Gebäude lassen. Der Wassergarten bleibt grundsätzlich Flora und Fauna vorbehalten, zwei Holzpodeste machen ihn für die Gebäudenutzer schonend zugänglich. Für die Regulierung des Wasserstands ist eine grosse Zisterne vorgesehen, die das gesamte Regenwasser des Grundstücks sammelt. Die Pumpe, die in Trockenperioden den Minimalwasserstand sicherstellt, sorgt auch für Wasserbewegung, um die Mückenpopulation im Griff zu behalten.

Im Projektdossier zum Hofs drückt sich der experimentelle Geist des Hortus in einer ungewöhnlichen Zahlenlastigkeit aus. Für jede Bauweise und jedes Material legt die Dokumentation Rechenschaft über die CO2-Bilanz ab. Die harte Zahlenrealität zeigt Wirkung: so gut wie keine versiegelten Flächen, viele lokale Materialien. Selbst die Holzdecks sind mit Schraubpfählen betonfrei fundiert. Und das omnipräsente Wasser sorgt in Hitzephasen doppelt für Kühlung: durch direkte Verdunstung und durch die Verdunstungskühle der Pflanzen, deren Wachstum es ermöglicht. Die Nachhaltigkeit und der langfristige Erhalt der Biodiversität im Hof stehen und fallen mit dem Unterhalt, das ist für Urs Sutter wie für die Biodiversitätsspezialistinnen klar. «Eine solche Artenvielfalt auf dieser kleinen Fläche zu pflegen und das Gleichgewicht langfristig zu erhalten, erfordert viel Fachwissen», weiss Sutter aus Erfahrung. Daher erarbeitet sein Team gerade ein Unterhaltskonzept, zu dem auch die fachliche Schulung der langfristig für die Pflege Zuständigen gehört.

Die Modellierung der Wasserlandschaft schafft tiefere, dauerhaft überflutete und flachere, wechselfeuchte Zonen.

Fünf Stockwerke werfen ihre Schatten auf den schmalen Hof. Das erfordert eine schattenverträgliche Bepflanzung.

Die Holzdecks sind mit Schraubpfählen betonfrei fundiert, für die Teichabdichtung hat sich dank guter CO2-Bilanz Bentonit gegen Folie, Lehm und Kalk durchgesetzt.

Sieben Kennwerte zur Biodiversität
Zukunftweisend am Hortus-Hof ist vor allem die Entwicklung der Biodiversitätskennzahlen. Sie halfen beispielsweise bei der Abwägung zwischen Solarpanels und Fassadenbegrünung im Hof. Gerade diese quantitative Bewertung von komplexen Qualitäten war für die Fachfrauen aber auch eine Herausforderung mit Fragezeichen. «Biodiversität durch einfache Kennwerte zu quantifizieren, ist heikel. Dennoch verstehen wir das Bedürfnis», so Di Giulio. So hat sie gemeinsam mit Katrin Hauser und Danièle Martinoli ein System entwickelt, das Bauherrschaften und Projektleitungen ohne Fachwissen eine einfache Bewertung der Biodiversität in ihrem Projekt ermöglichen und Orientierung und konkrete Ansatzpunkte zur Optimierung bieten soll.

Diagramm zum Status der Biodiversitätsförderung im Projekt Hortus (Kenntnisstand Vorprojekt; der zentrale Freiraum des Gesamtareals wurde beim Biotopflächenfaktor nicht berücksichtigt)

Sieben Kennwerte – von Biotopflächenfaktor und Biodiversitätskonzept über invasive Arten, Beleuchtung, Lebensraumvielfalt und -vernetzung bis zu Pflege, Erlebnis- und Aufenthaltsqualität – werden anhand konkreter Kriterien pro Kennwert mit Punkten bewertet. Der Bewertungsschlüssel unterscheidet Muss-Kriterien, Minimal-Kriterien, die je nach Erfüllungsgrad mehr oder weniger Punkte geben, und Bonus-Kriterien, die Zusatzpunkte generieren. Dabei muss für jeden Kennwert die Mindestanforderung erreicht werden, eine Kompensation eines Kennwerts durch einen anderen ist nicht möglich. So soll «Ablasshandel» verhindert und eine differenzierte Bewertung möglich werden. Das Kennzahlensystem wird nun an weiteren Projekten in Zusammenarbeit mit Landschaftsarchitekten und Freiraumplanerinnen optimiert – fliesst aber schon jetzt auch in die Prozesse bei Senn ein.

Der Garten des Hortus ist weniger die perfekte Lösung als vielmehr Stein des Anstosses. Seine Planung hat wichtige Fragen aufgeworfen, Dringlichkeiten, Möglichkeiten und Wege aufgezeigt. Die Möglichkeiten sollen bei Senn zu Verbindlichkeiten werden: Die Biodiversitätsspezialistinnen sind bereits ins nächste Projekt des Unternehmens involviert – und vertreten ihr Thema dort von Projektbeginn an. Grundsätzlich gehören bei Senn neu bei jedem Projekt die Anforderungen an die Biodiversität wie die an die Zirkularität zwingend zu den Projektvorgaben. Und auch Verantwortliche für die beiden Themen werden bei Senn nun standardmässig von Beginn an festgelegt. Der Hortus-Garten ist ein Versprechen, auf dessen Einlösung man gespannt sein darf.

Im Sommerzustand ergänzt die Fassadenbegrünung die grossenteils heimische Artenvielfalt des Wassergartens.

Kommentare

Manuela Di Giulio 19.09.2022 14:51
Lieber Herr Leuzinger Biodiversität ist sehr umfassend, aber gemäss Biodiversitäskonvention der Vereinten Nationen verbindlich definiert: sie umfass die Vielfalt aller lebenden Organismen, Lebensräume und Ökosysteme auf dem Land, im Süsswasser, in den Ozeanen und in der Luft sowie sämtliche Interaktionen zwischen den Ebenen. Mit Kennwerten lässt sich eine solche Komplexität nur annähernd erfassen, trotzdem braucht es griffige Indikatoren, um Ziele zu definieren und deren Erreichen zu evaluieren. Der Anspruch der Kennwerte für Immobilien ist es, nur die wichtigsten Aspekte der Biodiversität im Siedlungsraum zu erfassen. Und wie sie schön schreiben: Es ist ein spannendes Experiment und wir haben uns auf den Weg gemacht.
Henri Leuzinger 08.09.2022 10:04
Biodiversität messen - das ist schon ein sehr weites Feld, zuerst wäre ja zu klären, wovon überhaupt die Rede ist. Davon steht nicht viel im Bericht. Aber allemal ein spannendes Experiment. Mich nimmt bei solch künstlichen Inseln, und es ist ja ökologisch gesehen wohl eine, immer wunder, wie das auf Dauer über einige Jahre geht. Pflanzen und Gehölze wachsen, beim Blattfall entsteht im Herbst viel Biomasse. Wohin mit der? Oder bleibt die liegen? Und wie stehts mit Konflikten - Krankheiten, unerwünschtes Zeug (Schädlinge) usw.
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