Winterthur möchte den geplanten Ausbau der Autobahn in Töss zur Stadtentwicklung nutzen. Die Hürden sind hoch, der Zeithorizont ist weit. Was braucht es, damit die Stadtreparatur durch Eintunnelung gelingt?
Ende der 1980er-Jahre fertigten Lehrlinge in der Modellwerkstatt der Giesserei Sulzer ein Modell der Innenstadt von Winterthur im Massstab 1 : 500 an. Sie schenkten es der Stadt, die das Modell um weitere Module ergänzte und im ersten Stock des Superblocks, dem Verwaltungsgebäude im Sulzer-Areal, aufstellte. Weisse Kuben aus Styropor setzen sich vom Lindenholz ab und zeigen die geplanten Bauten im Stadtbild. Dabei sticht ein Gebiet beim südlichen Stadteingang besonders ins Auge. Die geballte Ladung weisser Klötze erweckt den Anschein, dass dort offenbar kein Stein auf dem anderen bleiben soll. Selbst wer Winterthur kennt, braucht einen Moment, um sich zu orientieren: Die Autobahn mit der Ausfahrt Töss ist nämlich weg. An ihrer Stelle steht ein neues Quartier.
Für die Erschliessung der Stadt ist dieser Ort ein neuralgischer Punkt. Seit Jahrhunderten kamen hier die Reisenden von Zürich her nach Winterthur, zunächst über die kurvenreiche alte Strasse via Steig nach Töss und ab den 1840er-Jahren über die neue Kantonsstrasse durch das Kempttal. Durch dieses enge Tal zwängten sich bald auch die Bahnlinien der Nordost- und dann der Nationalbahn. In den 1960er-Jahren entstand im inzwischen eingemeindeten Ortsteil Töss auch der wichtigste Autobahnanschluss von Winterthur. Heute gehören die Bahnlinie und die Autobahn zu den meistbefahrenen Strecken der Schweiz. Die Verkehrsstränge im Süden sind Winterthurs Nabelschnur, die die Stadt mit Zürich, dem Flughafen und dem Grossteil der Schweiz verbindet.
Stadtentwicklung statt Ausbau im Bestand
Die Verkehrsträger haben ihre Spuren im Stadtbild hinterlassen, insbesondere die raumfressende Autobahn. 1969 bezeichnete eine Publikation den Anschluss in Winterthur-Töss als «kompliziertestes Anschlussbauwerk der N1». Die alte Ausfallstrasse wurde in zwei doppelspurige Einbahnstrassen aufgespalten, dazwischen liegt die Autobahn. Aus der Luft betrachtet entfalten solche Bauwerke eine gewisse Eleganz, doch die Realität auf dem Boden ist eine andere: eine auf knappem Raum vom Verkehr gebeutelte Landschaft und ein unattraktiver Stadteingang. Und es soll noch schlimmer kommen: Das Bundesamt für Strassen (Astra) möchte die Autobahn auf diesem Abschnitt von vier auf sechs Spuren ausbauen. Ausserdem führt das Projekt ‹Mehrspur Zürich–Winterthur› der SBB mit dem in Töss einmündenden Brüttenertunnel zu markanten Eingriffen im Süden der Stadt. Alles in allem: noch mehr Asphalt, noch mehr Beton, noch mehr Lärm. Bereits hat das Astra den Ausbau im Bestand zur Bestvariante gewählt.


Grundsätzlich steht die Stadt hinter dem Ausbau der Autobahn. Denn um die dichter werdende Innenstadt zu entlasten, soll der Autoverkehr vermehrt über die Autobahn geführt werden, die auch als Stadtumfahrung dient. In einer Stellungnahme bemängelten die Winterthurer Behörden jedoch die Pläne im Abschnitt Töss. Mit dem Ausbau im Bestand würde eine unhaltbare Situation für weitere mindestens 80 Jahre zementiert. In seinen Abklärungen hatte das Astra zwar auch eine Tunnellösung diskutiert, diese aber verworfen. Im Februar 2020 brachte eine schriftliche Anfrage im Stadtparlament das Thema Tunnel auf die politische Ebene – lanciert von der GLP, unterzeichnet auch von Mitgliedern der anderen Fraktionen von links bis rechts. Der Regierungsrat des Kantons Zürich stützte die kritische Haltung der Stadt, worauf das Astra die Planung 2021 sistierte. Das gab der Stadt Zeit, im Auftrag des Kantons mit den Planungsbüros Van de Wetering Atelier für Städtebau (heute Atelier Corso) und Metron Verkehrsplanung einen Masterplan zu erarbeiten. Damit will Winterthur das Infrastrukturprojekt zur Stadtentwicklung nutzen. Die im Frühjahr 2023 präsentierten Pläne wären für den südlichen Stadteingang ein Befreiungsschlag, der dem Gebiet eine Entwicklungsperspektive für die nächsten Generationen eröffnen würde.
Vielfältige Mehrwerte
Der Schlüssel zum Erfolg ist ein Tunnel: Kurz nach der Stadtgrenze taucht die von Zürich her kommende A1 ab, schwenkt nach links in die Flanke des Ebnet-Hügels, umfährt das Quartier Töss und mündet im Schlosstal wieder in die bestehende Trasse. Der heutige Autobahnabschnitt kann mitsamt den beiden flankierenden Ästen der Kantonsstrasse – mit Pannenstreifen insgesamt zehn Spuren – rückgebaut und zu einem von Bäumen gesäumten städtischen Boulevard umgestaltet werden. Aus dem trennenden Asphaltband wird ein verbindendes Rückgrat. Plätze gliedern die neue Achse und verknüpfen sie mit den angrenzenden Quartieren. Die frei werdenden Strassenflächen und die benachbarten, teils mit Industrie- und Gewerbebauten oder Fachmärkten besetzten Areale werden entwickelt und bebaut. Rund 5000 Menschen sollen dereinst hier wohnen, etwa 6000 Arbeitsplätze soll es geben.
Die Entlastung der heutigen SBB-Linie durch das Projekt ‹Mehrspur› ermöglicht es, am südlichen Stadteingang eine neue S-Bahn-Station einzurichten. An der meistbefahrenen S-Bahn-Strecke zwischen Winterthur und Zürich gelegen, erschliesst der Bahnhof Winterthur Süd nicht nur den neuen Stadtteil, sondern ganz Töss sowie die heute weitgehend isolierten Wohnquartiere Steig und Dättnau. Am nördlichen Ende des neuen Rückgrats quert der freigelegte Flusslauf der Töss den städtischen Boulevard als grünes Band und vermittelt zu den bestehenden Quartieren. Winterthur Süd bindet auch das bislang eher am Rand gelegene Areal der ehemaligen Maschinenfabrik Rieter in das Stadtgefüge ein. 2023 hat das Immobilienunternehmen Allreal das 75 000 Quadratmeter grosse, aus einem Kloster hervorgegangene Fabrikareal übernommen. Unter dem Namen Vitus-Areal wird es in den kommenden Jahren zu einem gemischt genutzten Stadtteil umgestaltet.
Langer Atem nötig
Mit dem Eintrag in den kantonalen Richtplan erhielt die Tunnelidee das planerische Fundament für die weiteren Arbeiten. Die Interessen mögen im Einzelnen unterschiedlich sein, doch die Unterstützung der Tunnellösung hält bis heute über alle Fraktionen hinweg an. Bis die Autobahn in den Tunnel verlegt wird und Winterthur im Süden einen neuen Stadtteil erhält, wird es aber noch Jahrzehnte dauern – wenn es überhaupt gelingt. Denn die Hürden sind hoch. Die Zeitachse reicht weit in die Zukunft: Laut Astra liegt der früheste Zeitraum für den Autobahnausbau in den Jahren 2036 bis 2043. Erst anschliessend könnte der Stadtumbau beginnen. Die finanzielle Hürde ist mindestens ebenso hoch. Für den Bau und die Finanzierung der Nationalstrassen ist grundsätzlich der Bund zuständig, doch für die Mehrkosten der Tunnellösung müssen andere Finanzierungsmöglichkeiten entwickelt werden. Zwar würde mit dem Tunnel bisheriges Autobahn- und Strassenland zu wertvollem Bauland, und der Wert der bestehenden Grundstücke würde markant steigen. Ein Tunnel liesse sich damit jedoch bei Weitem nicht finanzieren. Zurzeit laufen Gespräche zwischen Stadt und Kanton, um den Rahmen der rechtlichen und politischen Möglichkeiten eines für Bund, Kanton und Stadt tragbaren Finanzierungsmodells abzustecken. Für das Amt für Städtebau sind auch die raumplanerischen Aspekte eine maximale Herausforderung. Auf Plänen und in Modellen lassen sich Strassen und Plätze einfach anlegen und mit Volumen bestücken. In der Praxis sind unzählige Grundeigentümer davon betroffen. Und wenn Winterthur um 5000 Einwohnerinnen und Einwohner wachsen möchte, muss die Stadt die entsprechende Infrastruktur bereitstellen: Kindergärten, Schulen, Alters- und Quartierzentren und vieles mehr.
Der nächsten Generation das Terrain bereiten
Die Pläne und Modelle für die Gebietsentwicklung Winterthur Süd faszinieren. Doch sind sie nicht eine Nummer zu gross und zu teuer? Öffnet man den Horizont auf die ganze Metropolitanregion Zürich, dann ist das keineswegs der Fall. Vielmehr bietet sich hier die einmalige Möglichkeit, mittels einer Stadtreparatur ein dichtes, urbanes Gebiet zu entwickeln, ohne ein funktionierendes Gefüge zu verdrängen oder Kulturland zu opfern. Der Zeithorizont darf die heutige Planergeneration nicht abschrecken. Ihr Ziel kann, muss es aber nicht sein, die weissen Klötze im Stadtmodell in die Realität umzusetzen. Was sie heute und in den kommenden Jahren tun muss, ist, die nötigen Weichen richtig zu stellen und damit der nächsten Generation das Terrain zu bereiten. Das ist anspruchsvoll genug.
Bei der Einhausung der Autobahn in Zürich-Schwamendingen dauerte es 25 Jahre von der ersten politischen Weichenstellung bis zur Eröffnung, obwohl dort ‹nur› die bestehende Autobahn mit einem begrünten Tunnel ummantelt wurde. Das Vorhaben in Winterthur Süd ist deutlich komplexer. Aber auch der Mehrwert ist um ein Vielfaches grösser – für die Bevölkerung von Winterthur und für den Metropolitanraum Zürich. Es lohnt sich, dranzubleiben, Schritt für Schritt, sorgfältig und pragmatisch vorzugehen – in typisch winterthurerischer Manier.
Dieser Beitrag stammt aus stammt aus dem Themenfokus «Zukunft Winterthur». Hier geht kann das Heft bestellt und das Epaper gelesen werden.
An der Heftvernissage vom 22. Oktober diskutieren Fachpersonen aus Raum- und Stadtplanung sowie Immobilien über Chancen, Potentiale und Risiken in Winterthur Süd – im Zusammenhang mit der angedachten Autobahnüberdeckung und der SBB-Haltestelle.
