Mit dem Niedergang der Industrie brachen in Winterthur alte Gewissheiten weg. Die Stadt musste sich neu erfinden. Der kommunale Richtplan legt die Leitlinien für die künftige Entwicklung fest.
Man stelle sich vor, die ganze Bevölkerung von La Chaux-de-Fonds verlasse ihre Stadt und ziehe nach Winterthur. 37 000 Menschen, aber peu à peu, über einen Zeitraum von gut 40 Jahren. Was für La Chaux-de-Fonds undenkbar ist, hat für Winterthur einen wahren Kern. 1981 begründeten die beiden Städte eine Partnerschaft. Damals zählte Winterthur 85 000 Einwohnerinnen und Einwohner, heute sind es 122 500. Also mehr als 44 Prozent oder ein ganzes La Chaux-de-Fonds mehr. Zunächst verlief das Wachstum zögerlich, doch um das Jahr 2000 begann der steile Aufstieg: plus 32 000 Personen in 25 Jahren.
Gemäss Prognose wird Winterthur weiterhin wachsen, wenn auch etwas langsamer als bisher: auf 135 000 Einwohnerinnen und Einwohner bis 2040. Um das Verhältnis von Einwohnerzahl und Arbeitsplätzen zu verbessern, soll im selben Zeitraum die Anzahl Arbeitsplätze stärker steigen: um 25 000 auf rund 100 000. ‹Winterthur 2040› heisst die räumliche Entwicklungsperspektive, mit der die Stadt ihre Zukunft gestalten möchte. Sie bildete die Grundlage für weitere Instrumente und Konzepte für die Entwicklung von Winterthur. Ein Schlüsseldokument ist der kommunale Richtplan, den die Stadtregierung dem Parlament im Herbst 2024 zur Beratung übergab. Das behördenverbindliche Papier benennt sechs Schwerpunkträume entlang eines ‹urbanen Rückgrats›, postuliert starke Quartiere und befasst sich mit fünf übergreifenden stadträumlichen Themen. 60 Prozent der Entwicklung – mit Schwerpunkt auf den Arbeitsplätzen – sollen konzentriert entlang dieses ‹urbanen Rückgrats› stattfinden, 40 Prozent im übrigen Siedlungsgebiet.
Die sechs im Richtplan benannten Schwerpunkträume des ‹urbanen Rückgrats› sind durch leistungsfähige öffentliche Verkehrsmittel verbunden. Hier soll Winterthur höher und dichter, durchmischter und vielfältiger – also städtischer – werden. Geradezu spektakulär ist die skizzierte Entwicklung am südlichen Stadteingang siehe ‹Befreiungsschlag im Süden›, Seite 8. Die Zürcherstrasse als Fortsetzung der Einfallachse Richtung Stadtzentrum soll zu einem attraktiven Boulevard umgestaltet werden, trotz nach wie vor hohem Verkehrsaufkommen. Kleine Plätze sollen den Strassenraum weiten, höhere Bauten Akzente setzen.
Der zentrale Schwerpunkt des ‹urbanen Rückgrats› ist der Gleiskorridor zwischen Sulzer-Areal Stadtmitte und Kantonsspital. Im Fokus steht hier der Ausbau des Hauptbahnhofs, für den zurzeit verschiedene Lösungen diskutiert werden. Das Hauptproblem ist der knappe Platz zwischen Bahnhofsgebäude und Rudolfstrasse. Gemeinsam mit der Stadt arbeiten die SBB zudem an Plänen für die Entwicklung des Lind-Areals. Auf der anderen Seite der Altstadt bilden die alten Hauptgebäude des früheren Technikums, der heutigen Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), den Ausgangspunkt für das Wissensquartier. Im Herbst 2024 haben die Bauarbeiten für den Campus T begonnen. Im rückwärtigen Teil des Gebiets sollen sich weitere Bildungseinrichtungen ansiedeln.
Während das Wissensquartier auf bestehenden Strukturen und Einrichtungen aufbaut, greift die geplante Transformation im Gebiet des Bahnhofs Grüze tiefer. Zwar liegt dieser Bahnhof an einem wichtigen Ort an der Verzweigung dreier Bahnlinien, darunter die direkte S-Bahn-Verbindung nach Zürich. Doch bislang schnitten Schienenstränge, Gewerbegebiete und das einst geschlossene Sulzer-Areal in Oberwinterthur den Bahnhof Grüze vom städtischen Leben ab. Ab Ende 2026 wird die den Bussen, Velos und Fussgängern vorbehaltene Leonie-Moser-Brücke den Bahnhof Grüze mit den angrenzenden Quartieren verbinden. Künftig soll hier eine dichte, hohe Bebauung entstehen. Eingebettet in neue Stadträume sind je zur Hälfte Wohnungen und Dienstleistungsflächen vorgesehen. Erste Bausteine sind das historische Gelatine-Areal und das geplante Hochhaus ‹Oase› am Auftakt der Sulzerallee.
Der östlichste Schwerpunktraum des ‹urbanen Rückgrats› ist das Umfeld des Bahnhofs Oberwinterthur. Wie alle Winterthurer Stadtbahnhöfe liegt auch der Bahnhof von ‹Oberi› eher peripher zum ehemaligen Dorfkern. Die direkten Verbindungen mit der S-Bahn nach Zürich machen auch diesen Ort zu einem potenziell attraktiven Mobilitätshub. Der Masterplan sieht beidseitig Plätze und eine durchgehende Unterführung vor, die den Bahnhof allseitig einbinden. Eine Verdichtung der angrenzenden Gebiete und bessere Querverbindungen sollen zu einem ansprechenden städtischen Ort beitragen.
Der Niedergang als Weckruf
Noch vor 40 Jahren war Winterthur eine Industrie- und Handelsstadt mit global vernetzten Unternehmen: Der Sulzer-Konzern baute Dieselmotoren und Lokomotiven, die Maschinenfabrik Rieter Textilmaschinen für die ganze Welt. Das Handelshaus Volkart gehörte zu den weltgrössten Kaffee- und Baumwollhändlern, und die Winterthur Versicherungen trugen den Namen der Stadt in die Welt hinaus. Die Familiendynastien hinter diesen Firmen trafen sich im exklusiven Club ‹zur Geduld›, und sie sorgten für erlesene Sammlungen in den Museen. Auch die Vorreiterrolle im Kampf für die Demokratie und gegen die Vorherrschaft Zürichs im 19. Jahrhundert prägte das Wesen der Winterthurerinnen und Winterthurer. Die Abgrenzung gegenüber der Kantonshauptstadt gehörte zum gesunden Selbstbewusstsein, wobei (in Winterthur hört man das nicht gern) ein gewisser Minderwertigkeitskomplex mitschwang.
Die Industriekonzerne sind heute nur noch ein Schatten früherer Grösse. Das Handelshaus handelt nicht mehr, die Versicherung trägt den Namen der französischen Muttergesellschaft, und auch die Industriellenfamilien verloren an Bedeutung. Was kann dieses Vakuum füllen? Worauf beruht das Selbstverständnis der postindustriellen Stadt? Winterthur musste sich neu erfinden. Vor einer Generation haben Politiker, Planerinnen und eine engagierte Bevölkerung die Grundlagen dafür geschaffen. Sulzers Ankündigung, ihr Areal in der Stadtmitte zur Tabula rasa zu machen, weckte 1990 den Widerstand in der Politik und unter Fachleuten. Daraus entstanden die Werkstattgespräche, die in die Gründung des Forums Architektur mündeten – bis heute ein wichtiger Akteur im städtebaulichen Diskurs.
Die politische Wende folgte 2002. Die bürgerlichen Parteien verloren im Stadtrat die absolute Mehrheit, und mit Ernst Wohlwend wurde erstmals ein Sozialdemokrat Stadtpräsident. Auch in der Wirtschaft gab es einen Generationenwechsel. Hatte man sich früher entlang der Parteigrenzen abgeschottet, zeigten die Neuen keine Berührungsängste gegenüber Personen mit anderen Meinungen. Die Stadt stand am Anfang des grossen Wachstumsschubs. Seither sind mehr als 30 000 Menschen nach Winterthur gezogen. Mehr als ein Drittel davon kam aus der Stadt Zürich – ein Quartier fast in der Grösse von Wipkingen. Sie machten Winterthur jünger, urbaner und linker. Das widerspiegelt sich heute in der politischen Landschaft: Die Mehrheit im siebenköpfigen Stadtrat ist links-grün, und auch im Stadtparlament ist die Linke etwas stärker als die Rechte. Die politischen Verhältnisse sind jedoch nicht so eindeutig und längst nicht so stabil wie etwa in Bern oder Zürich. So gehört Stadtpräsident Michael Künzle, seit 2012 und noch bis 2026 im Amt, der Mitte-Partei an.
Grüner Ring statt Agglomeration
Seit 2008 ist Winterthur statistisch eine Grossstadt. Im kommunalen Richtplan erzeugt der Begriff des ‹urbanen Rückgrats› das Bild eines linearen, dichten städtischen Gebiets. Doch ist eine Grossstadt nicht per se städtisch? Ist also ein ‹urbanes Rückgrat› in einer Grossstadt nicht ein weisser Schimmel? Nicht in Winterthur.
Die Einwohnerzahl sichert der Stadt zwar seit Jahrzehnten den sechsten Platz im Schweizer Städte-Ranking. Wirklich städtisch zeigt sich Winterthur aber nur an wenigen Orten: in der Altstadt, in ein paar Blöcken beim Bahnhof, im inneren Neuwiesen-Quartier und entlang der Ausfallachse in Töss. Waren die Arbeiterfamilien in anderen Industriestädten oft in Mietskasernen untergebracht, bauten die Industriellen, Genossenschaften oder private Gesellschaften in Winterthur stark durchgrünte Reihenhaussiedlungen. Als der Zusammenschluss mit fünf umliegenden Gemeinden das Stadtgebiet 1922 von gut 10 auf 68 Quadratkilometer vergrösserte, waren einzig Töss und am Rand Veltheim baulich mit der Stadt verbunden. Wülflingen, Oberwinterthur und Seen waren abgelegene Dörfer. Seither ist das Siedlungsgebiet der Kernstadt mit den einstigen Dörfern verschmolzen, doch die Stadtgrenze liegt noch immer weit ausserhalb im Grünen. Lediglich im Osten sind das Quartier Neuhegi und die Gemeinde Elsau punktuell zusammengewachsen.
Bisherige Winterthur-Themenhefte
Zwei Themenhefte sind bereits bei Hochparterre erschienen. Das Heft von 2006 widmet sich der Transformation der ehemaligen Industrieareale. Das Heft von 2016 behandelt den Wandel der Stadt zum Bildungs-, Kultur- und Dienstleistungsstandort.
Gemäss dem Bundesamt für Statistik bildet Winterthur mit sieben umliegenden Gemeinden eine Agglomeration. Doch die Agglomerationsgemeinden zählen nicht einmal 25 000 Einwohnerinnen und Einwohner; die grösste Nachbargemeinde, Illnau-Effretikon mit einer Bevölkerung von knapp 18 000 Personen, gehört zur Agglomeration Zürich. Winterthur ist die mit Abstand grösste Schweizer Stadt, die nicht Kantonshauptstadt ist. Das schränkt die Zentrumsfunktion ein. Es fehlt der tägliche Puls der aus der Agglomeration in die Stadt pendelnden Arbeitskräfte. Im Gegenteil: Viele Winterthurerinnen und Winterthurer pendeln weg, vor allem nach Zürich – und verbringen dort auch gleich noch ihren Feierabend. Deshalb strebt der kommunale Richtplan eine stärkere Zunahme der Arbeitsplätze an.
Die Erfolgsgeschichte weiterschreiben
Für die Stadt bedeutet das eindrückliche Wachstum grosse Investitionen in die Infrastruktur: Strassen, Wasser und Abwasser, der öffentliche Verkehr, Kindergärten, Schulhäuser, Sportplätze, Alterszentren oder kulturelle Bauten müssen erweitert, neu oder umgebaut werden. Auch der öffentliche Raum spielt in einer dichter werdenden Stadt eine immer grössere Rolle – das Ausruhen auf dem sympathischen Bild der Gartenstadt reicht nicht aus.
Der kommunale Richtplan will die Winterthurer Eigenheiten stärken. Das schwerpunktmässige Wachstum im ‹urbanen Rückgrat› erlaubt es, die Entwicklung im übrigen Siedlungsgebiet behutsamer anzugehen. Unter dem Begriff ‹Starke Quartiere› sollen die Viertel ausserhalb des ‹urbanen Rückgrats› mit neu gestalteten Strassen und Plätzen attraktiver werden. Dadurch soll auch das Angebot für den täglichen Bedarf verbessert und dem Ladensterben entgegengewirkt werden – ganz im Sinn der Fünf-Minuten-Stadt, die der Richtplan postuliert. Der Grüngürtel um das Siedlungsgebiet soll in seiner Qualität als Naherholungsgebiet gestärkt werden.
Bislang standen die Bautätigkeit und die Zuwanderung in einem ausgewogenen Verhältnis. Auch das Wachstum wird mehrheitlich positiv gesehen. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass die Anzahl Rekurse gegen Bauprojekte deutlich geringer ist als etwa in Zürich. Doch nun geht die Entwicklung der grossen Areale dem Ende entgegen, und in jüngster Zeit werden weniger Wohnungen gebaut, als die Zugezogenen benötigen. Zugleich nehmen in der Bevölkerung die Bedenken gegen die Verdichtung zu. Der kommunale Richtplan zeigt auf, wo Winterthur sich wie entwickeln soll. Aber er ist kein Selbstläufer. Die Ziele lassen sich nur erreichen, wenn die Bevölkerung mitmacht. Darauf muss die Politik reagieren – insbesondere im Wohnungsbau.
Der Widerstand gegen das Projekt ‹Winti Nova› auf dem Sulzer-Areal Stadtmitte vor 35 Jahren war ein Weckruf für Winterthur. Die Transformation des Areals hat das bis dahin auf die Altstadt konzentrierte Verständnis von Stadt um eine Dimension erweitert. Der Aufbruch von damals und die darauffolgenden politischen Verschiebungen führten zu einer Professionalisierung in der Verwaltung – vor allem in den Bereichen Planung und Bauen. Transparente, breit abgestützte Prozesse führten auf der ganzen Linie zu besseren Ergebnissen: von der Planung über den Städtebau bis hin zur Architektur.
Mit der räumlichen Entwicklungsperspektive ‹Winterthur 2040› und dem kommunalen Richtplan schreibt die heutige Generation die Geschichte weiter. Darauf basiert auch der nächste Meilenstein: die anstehende Revision der Bau- und Zonenordnung (BZO). Das ‹urbane Rückgrat› ist ein ganz neues Kapitel in der Entwicklung der Stadt – eines, das noch vor wenigen Jahren kaum denkbar gewesen wäre. Allein darin zeigt sich, wie weit der Weg ist, den Winterthur zurückgelegt hat: von der grossen Kleinstadt im Schatten von Zürich zur selbstbewussten kleinen Grossstadt im Metropolitanraum.
Umfassend und vertieft
Der ‹Architekturführer Winterthur› gibt einen umfassenden und vertieften Einblick in die bauliche Entwicklung der Stadt. Auf 530 Seiten dokumentiert das Buch rund 700 Bauten und Ensembles. Der Fokus liegt auf dem Zeitraum ab 1830, als die industrielle Karriere Winterthurs begann. Viel Raum nimmt auch der Wandel der Stadt durch die Transformation der Industriegebiete in den vergangenen 30 Jahren ein. Dabei blickt der Architekturführer über das Stadtgebiet hinaus, beispielsweise auf die prototypische Agglomerationsgemeinde Illnau-Effretikon. Einführungstexte und Essays zur Stadtentwicklung bieten einen Überblick über das Baugeschehen in der Stadt; Quartierpläne sorgen für die geografische Einordnung und Orientierung. Zu jedem Objekt gibt es mindestens ein aktuelles oder historisches Foto und zu einem Grossteil davon gezeichnete Grundrisse.

