Stadtbaumeister Jens Andersen, Flurina Pescatore von der Quartierorganisation Tösslobby und Architekt Sergio Marazzi debattieren über das Wachstum der Stadt Winterthur und wie es auffangen.
Werfen wir als Einstieg kurz einen Blick auf die letzten 20 Jahre. Was hat sich in Winterthur während dieser Zeit am stärksten verändert?
Flurina Pescatore: Vor 20 Jahren habe ich zeitweise in der Altstadt gearbeitet. Damals fand das öffentliche Leben hauptsächlich dort statt. Drumherum war wenig los. Heute sind die angrenzenden Gebiete stark belebt, während sich die Altstadt am Abend manchmal rasch leert.
Jens Andersen: Winterthur ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten dichter und urbaner geworden. Auch ich beobachte, dass sich die Kernstadt, zu der die Altstadt gehört, am stärksten verändert hat. Dank den neuen Querverbindungen ist beispielsweise im Neuwiesen-Quartier viel los. Gleiches gilt für das ehemalige Sulzer-Areal Stadtmitte, das mit den Gebieten nördlich des Bahnhofs und dem Neuwiesen-Quartier die neue Kernstadt bildet.
Sergio Marazzi: Ich kann mich diesen Aussagen nur anschliessen: Die Marktgasse in der Altstadt hat verloren, während sich die eigentlich rückwärtige Steinberggasse erstaunlich positiv entwickelt hat. Gebiete wie Neuhegi und insbesondere das Sulzer-Areal Stadtmitte haben enorm an Bedeutung gewonnen. Als ich vor gut 20 Jahren mein Studium an der ZHAW abgeschlossen habe, herrschte auf dem Sulzer-Areal rund um die Halle 180, wo die Architekturabteilung schon damals untergebracht war, tote Hose. Heute ist da viel Betrieb, vor allem auf dem Lagerplatz-Areal.
«Wir müssen aufzeigen, wo das Wachstum stattfinden soll.» Jens Andersen
Von den persönlichen Eindrücken zu einer übergeordneten Betrachtungsebene: Hat das Wachstum der Stadt gutgetan?
Flurina Pescatore: Auf jeden Fall. Wenn man mehr Urbanität möchte, braucht es mehr Menschen. In Schaffhausen beispielsweise, wo ich arbeite, ist das nicht der Fall. Das ist mit ein Grund, warum es eher kleinstädtisch geprägt ist, was natürlich auch seinen besonderen Reiz hat.
Jens Andersen: Urbanität und Dichte hängen oft eng zusammen. Das Wachstum ist wichtig für die Auslastung gewisser Infrastrukturen, die sich mit einer höheren Auslastung besser finanzieren lassen – gerade in einer eher wenig dichten Stadt wie Winterthur, die sich über eine sehr grosse Fläche erstreckt. Gleichzeitig ist der Anteil des privaten Bauens hier hoch. Daraus ergibt sich die Chance, öffentliche Räume über Mehrwerte zu verbessern. Uns ist aber auch klar, dass Wachstum zuerst Kosten verursacht und der Ertrag erst später kommt.
Sergio Marazzi: Bis jetzt konnte die Stadt das Wachstum auffangen. Doch nun sind wir an einem heiklen Punkt angelangt, denn man spürt den baulichen Druck in den Quartieren. Ein sichtbares Zeichen dafür sind Bauprojekte, bei denen die bestehende Substanz aufgrund der vorhandenen Ausnützungsreserven durch Neubauten mit einem grösseren Volumen und einer plumpen Gestaltung ersetzt wird. Dadurch geht Identität verloren, und man merkt, dass die bisherigen Regeln der BZO nicht auf die innere Verdichtung der Gartenstadtquartiere ausgelegt sind.
Jens Andersen ist diplomierter Architekt ETH und Betriebswirtschaftler. Er leitet seit 2017 als Stadtbaumeister das Amt für Städtebau in Winterthur. Zuvor arbeitete er in verschiedenen Architekturbüros sowie in leitenden Funktionen bei der Immobiliengesellschaft am Flughafen Zürich. Ab 2010 führte er das Hochbauamt der Stadt Schaffhausen.
Flurina Pescatore und Jens Andersen, spüren Sie diesen Druck in den Quartieren bereits?
Flurina Pescatore: In Töss erst vereinzelt. Ein Beispiel dafür sind die Gebiete mit den für Familien gut geeigneten Arbeitersiedlungen, die sich in der Quartiererhaltungszone befinden. Dort führen die stark steigenden Liegenschaftspreise zu baulichen Interventionen, bei denen die Stadt sehr genau hinschauen muss, damit sie den Charakter des Quartiers nicht zerstören. Der Druck ist bei uns aber vor allem spürbar durch den zunehmenden Verkehr auf der Zürcherstrasse, die das Quartier durchschneidet.
Jens Andersen: Bislang konnten die ehemaligen Industrieareale einen Grossteil des Wachstums aufnehmen. Diese Potenziale sind nun ausgeschöpft oder werden es, wo die Planungen noch laufen, in wenigen Jahren sein. Der Druck verlagert sich deshalb in den übrigen Bestand, was zu Preisanstiegen bei Mieter- oder Handwechseln führen kann. Wir müssen jetzt die Weichen dafür stellen, wie die Strukturen aussehen sollen, wenn die Stadt in den nächsten 15 Jahren wie prognostiziert um weitere 20 000 Einwohnerinnen und Einwohner wächst. Und wir müssen aufzeigen, wo das Wachstum stattfinden soll, sonst passiert mit dem wertvollen Bestand genau das, was Sergio Marazzi geschildert hat. Die Reaktion muss rasch erfolgen, denn die aktuelle Verknappung und die zu geringe Wohnraumproduktion sind preistreibend.
Wie soll diese rasche Reaktion aussehen?
Jens Andersen: Das geht rechtlich nur über eine Revision der Bau- und Zonenordnung (BZO), die in den späten 1990er-Jahren für eine komplett andere Stadt entwickelt worden war. Die revidierte BZO muss die Innenentwicklung so abwickeln, dass es möglichst wenige negative Effekte – Druck auf die bestehenden Quartiere, Preisanstieg, Zerstörung des Bestands – gibt. Rein ressourcenmässig kann die Stadt nicht jedes Bauprojekt begleiten. Für die grosse Masse braucht es eine BZO, die auf Qualitätskriterien aufbaut und nicht – wie in den 1990er-Jahren – auf Projekte auf der grünen Wiese ausgerichtet ist und bloss Baumasse und Abstände regelt.
Es gibt diverse Stimmen, die das Wachstum stoppen möchten. Wäre das nicht auch eine Lösung?
Jens Andersen: Sollte man versuchen, das Wachstum über Verknappungen, beispielsweise in der BZO, zu regeln, würde das zu einem enormen Preisanstieg führen. Gerade in Winterthur könnten viele die stark steigenden Mieten oder Eigenheimpreise nicht mehr bezahlen. Das hätte rasch soziale Probleme zur Folge. An weiterem Wachstum und dem Bau von zusätzlichem Wohnraum führt deshalb kein Weg vorbei. Zudem darf man nicht vergessen: Seit den 1970er-Jahren hat sich der Wohnflächenbedarf pro Person verdoppelt. Das bauliche Wachstum wird also nicht nur durch Zuwanderung getrieben, sondern auch durch unsere Art des Zusammenlebens und unsere Ansprüche.
«Die Stadt muss sehr genau hinschauen, damit die baulichen Interventionen den Charakter des Quartiers nicht zerstören.» Flurina Pescatore
Die räumliche Entwicklungsperspektive ‹Winterthur 2040› zeigt, wie das erwartete Wachstum nachhaltig erfolgen könnte. Mit welchen Vorgaben wurde das Dokument erarbeitet?
Jens Andersen: Wir hatten bewusst keine Vorstellung, in welche Richtung es gehen soll. Das Ergebnis war völlig offen. Vielmehr haben wir mit den beauftragten Planungsbüros einen sehr breiten, partizipativen Prozess aufgegleist, aus dem dann das Zielbild der Entwicklungsperspektive 2040 entstanden ist. Einige massgebende Grundlagen gab es natürlich – etwa Wachstumsprognosen oder für Winterthur wichtige Analysen des Kantons. Ebenso war klar, welche Herausforderungen sich künftig stellen. Ich denke da etwa an den Verkehr, das Stadtklima oder den erwarteten Druck auf bestehende Quartiere.
Sergio Marazzi: Das Forum Architektur hat den Prozess mit Veranstaltungen, Stadtspaziergängen und Workshops eng begleitet. Der Prozess war extrem breit gefächert, und man hat viele Themen mitgenommen, die für die Entwicklung der Stadt künftig eine Rolle spielen könnten.
Flurina Pescatore: Wir von der Tösslobby haben den partizipativen Prozess sehr geschätzt und extra dafür die Arbeitsgruppe Raumplanung gegründet. Wir wollten unsere Interessen einbringen – keine kleinen Wünsche, sondern übergeordnete strategische Themen unseres Quartiers. Das Resultat waren acht durch die Mitgliederversammlung legitimierte raumplanerische und strategische Ziele, die wir der Stadt übergeben haben. Man hat uns ernst genommen, und die Ziele sind in die Entwicklungsperspektive 2040 eingeflossen. Die Partizipation war sehr wichtig. Sie hat den Menschen im Quartier gezeigt, dass sie mit ihrem Engagement etwas bewegen können. Generell finde ich die durch den Prozess entstandene Vision für Winterthur extrem wertvoll. Auch Menschen ohne raumplanerisches oder architektonisches Fachwissen können nachvollziehen, was in den nächsten 15 bis 20 Jahren passieren soll.
Jens Andersen: Die Sensibilisierung für Entwicklungsthemen durch Partizipation und leicht verständliche Zielbilder finde auch ich sehr wertvoll. Als Verwaltung können wir dabei nur gewinnen. Ohnehin sind Quartierorganisationen wie die Tösslobby wichtige Sparringspartner für uns, um Ideen zu prüfen, zu reflektieren, zu schärfen oder anzupassen. Aber Beteiligungsprozesse sind auch intensiv und aufwendig. Sie dauern lange und brauchen letztlich Konsensfähigkeit – nicht nur in der Verwaltung, sondern auch in der Politik.
Sergio Marazzi: In Winterthur haben wir eine wohl einmalige Nähe zwischen einer engagierten Bevölkerung und der Verwaltung. Wir als Forum Architektur haben beispielsweise die Möglichkeit, mit vielen persönlichen Kontakten direkt am Entwicklungsprozess teilzuhaben. Wir fühlen uns ernst genommen und können das auch an konkreten Resultaten ablesen. Die interessierte Bevölkerung kann nicht bloss ihre Sicht einbringen, sondern auch Themen streuen, die ansonsten Fachleuten vorbehalten sind. Wer hat früher schon von Kältekorridoren oder der Schwammstadt geredet? Mit der Entwicklungsperspektive 2040 wurden solche Themen auf einmal breit diskutiert.
Die Kunsthistorikerin Flurina Pescatore setzt sich seit 2006 als Vorstandsmitglied und seit 2010 als Vizepräsidentin der Dachorganisation von Töss – der Tösslobby – für die Entwicklung des Stadtquartiers Töss ein. Beruflich leitet sie das Amt für Denkmalpflege des Kantons Schaffhausen.
Die räumliche Entwicklungsperspektive ‹Winterthur 2040› wurde vor acht Jahren aufgegleist. Ist sie überhaupt noch aktuell?
Jens Andersen: Ja, sie ist immer noch topaktuell. Und vor allem ist sie ein sehr wichtiges Arbeitsinstrument für die ganze Stadtverwaltung, weil sie divergierende Strategien einzelner Departemente oder Bereiche verhindert. Sie hat quasi die Funktion eines rundum akzeptierten Mutterdokuments für alle weiteren Strategien und Konzepte. Basierend darauf sind etwa ein Höhenentwicklungs-, ein Freiraum- und ein Klimakonzept entstanden.
Sergio Marazzi: In vielen Teilen ist die Entwicklungsstrategie noch aktuell. Doch seit dem Prozess sind bereits mehrere Jahre vergangen, und wir sind ein ganzes Stück näher dran am Jahr 2040. Die Zeit schreitet voran, und nun muss die Umsetzung erfolgen. Dazu braucht es flexiblere Instrumente, als wir sie haben. Beim Richtplan, der jetzt im Parlament behandelt wird, ist das mit dynamischen Elementen bereits angedacht. Etwas in der Art müsste auch in der BZO möglich sein.
Stösst diese Forderung bei Ihnen auf offene Ohren, Jens Andersen?
Jens Andersen: Der dynamische Richtplan ist bereits ein guter Ansatz, und ich unterstütze die Idee, die BZO ähnlich aufzugleisen. Denkbar wäre etwa eine Art Kern-BZO, die alle unumstösslichen Themen enthält, zum Beispiel die unterschiedlichen Zonen oder grundsätzliche Regeln für das Bauen. Drumherum könnten – wie Satelliten – Bereiche angeordnet sein, die zwar eine gewisse Verbindlichkeit haben, aber schneller geändert werden können als die Kern-BZO. So müsste man das Regelwerk nicht immer gesamthaft revidieren, was viel Zeit benötigt, die man aufgrund der raschen Entwicklung gar nicht hat.
Flurina Pescatore: Eine dynamische BZO zu entwickeln, fände ich sehr wichtig und interessant. Winterthur steht mit seinen raumplanerischen Herausforderungen ja nicht allein da. Diese sind heute in allen Gemeinden gross, und fast alle sind damit überfordert. Die Arbeit der Parlamente und der Exekutive stösst an ihre Grenzen. Bis eine Gesamtrevision behandelt ist, haben Bund und Kantone die Gesetze bereits wieder geändert.
Die neue BZO ist Zukunftsmusik. Noch planen und bauen wir – 15 Jahre vor 2040 – mit Regeln aus den 1990er-Jahren. Eigentlich keine gute Situation.
Jens Andersen: Nein, aber so ist es leider. Die heutigen rechtlichen Systeme können mit der rasanten und stark auf Wachstum ausgerichteten Entwicklung, wie wir sie in Winterthur gerade erleben, nicht Schritt halten. Klar: Damit vergibt man auch Chancen. Bis die revidierte BZO politisch genehmigt ist, könnte die Wachstumswelle, auf die sie ausgerichtet ist, bereits abebben. Damit uns das künftig nicht mehr passiert, bin ich für die angesprochene BZO mit dynamischeren Instrumenten. Doch auch eine solche braucht Zeit im politischen Prozess. Um nicht zu viele Chancen für die Zukunft zu verpassen, fokussieren wir derzeit auf die enge Betreuung wichtiger Bauprojekte und Areale durch das Amt für Städtebau. Ein Beispiel dafür ist das Vitus-Areal in Töss.
Sie sprechen das ehemalige Rieter-Areal an?
Jens Andersen: Genau. Ein spannendes Areal, das eine etwas andere Stellung hat als die bisherigen Umnutzungen ehemaliger Industriegebiete. Denn rein rechtlich ist das Vitus-Areal ein Arbeitsplatzgebiet mit überregionaler Bedeutung. Ein Gestaltungsplan, beispielsweise mit Flächen für Wohnraum, ist von der Besitzerschaft derzeit nicht vorgesehen. Wenn Allreal die heutigen Reserven gemäss BZO ausnützen würde, gäbe das riesige Industrie- und Gewerbebauten. Damit eine massvollere Entwicklung möglich ist, führen wir gemeinsam mit Allreal einen Qualitätsprozess durch und schauen, was die beste Lösung für alle wäre. Beide Seiten wünschen sich zum Beispiel einen Bezug des Areals zum angrenzenden Quartier, den es bisher nicht gibt.
«In Winterthur haben wir eine wohl einmalige Nähe zwischen einer engagierten Bevölkerung und der Verwaltung.» Sergio Marazzi
Sergio Marazzi: Dieses Vorgehen entspricht dem bewährten Planungsablauf in Winterthur, mit dem man bereits in der Vergangenheit grosse Flächen entwickelt hat – etwa auf den beiden grossen Arealen von Sulzer in der Stadt und in Oberwinterthur. Man macht nicht Tabula rasa, sondern man schaut, wie sich die Situation vor Ort präsentiert, nutzt die Bestandsbauten vorerst weiter, probiert aus, entwickelt passgenau, und wo nötig korrigiert man schrittweise auch wieder. Knappe Ressourcen verhinderten eine schnelle Entwicklung, sodass genügend Zeit vorhanden war, damit identitätsstiftende Quartiere entstehen konnten. Dass die Stadt diesen Prozess mit ihren eigenen Qualitätsansprüchen steuert, finde ich wichtig. Der erste Schritt einer solchen sanften Entwicklung ist die Öffnung des Areals, wie sie jetzt in Töss angedacht ist. Generell begrüsse ich den Verbleib des Vitus-Areals in der aktuellen Zone – denn Winterthur braucht auch künftig Orte, an denen Arbeitsplätze entstehen können.
Flurina Pescatore: Der Begriff ‹Arbeitsplatzgebiet› klingt etwas gar beschönigend. Theoretisch könnten auf den Flächen auch richtige Industriebetriebe oder weniger quartierverträgliche Nutzungen angesiedelt werden. Ein Datencenter oder ein Busdepot etwa wären zonenkonform. Die Stadt muss deshalb gut darauf achten, dass auch innerhalb des bestehenden rechtlichen Rahmens eine verträgliche Entwicklung erfolgt. Aktuell sieht es aber so aus, als ginge es in Richtung einer guten Durchmischung und einer Öffnung gegenüber dem Quartier, was ganz in unserem Sinn ist.
Jens Andersen: Wir sind gut unterwegs. Der Prozess mit den Verantwortlichen des Vitus-Areals ist sehr konstruktiv. Heute positionieren sich Arbeitsplatzgebiete nicht mehr einfach durch das, was dort gebaut werden kann. Das Image, aber auch Nachhaltigkeit und Klimafragen sind ebenso wichtig. Daraus ergeben sich gemeinsame Schnittstellen, die eine positive Entwicklung ermöglichen – auch für den gesamten Stadtteil. Themen wie eine gute Durchwegung oder eine attraktive Infrastruktur sind für die Vermarktung des Areals ebenfalls ein Mehrwert.
Bleiben wir in Töss. Mit dem Projekt Winterthur Süd, dessen Ziel die Verlegung der Autobahn in den Berg und die Schaffung eines komplett neuen Quartiers an ihrer Stelle ist, hat die Stadt 2022 einen aufsehenerregenden Prozess angestossen. Was gab den Anlass für dieses Vorpreschen?
Jens Andersen: Unsere Analysen im Rahmen der Vernehmlassungen zu den Ausbauprojekten der SBB und für die Autobahn im Raum Töss machten deutlich, dass die Dichte der dortigen Infrastrukturen unsere Stadt in ihrer Entwicklung einschränken würde. Deshalb brauchte es einen Befreiungsschlag. In einem fast schon kamikazeartigen Verfahren haben wir rasch Planungsideen entwickelt und Thesen aufgestellt. Dabei zeigte sich: Würde man die grossen Infrastrukturen Autobahn, Bahngleise und Kantonsstrasse anders anordnen, könnte ein neues Stück Stadt entstehen. Die von uns unter grossem Zeitdruck erarbeitete Neupositionierung dieser Infrastrukturen hat sich zum Glück als grundsätzlich machbar erwiesen. Wir gingen damit in die Prozesse und Verfahren und haben uns bei Bund, SBB und Kanton aktiv eingemischt. Wir waren selbst überrascht, dass damit ein grosser Stein ins Rollen gebracht wurde. Als wir auf kantonaler Ebene Gehör fanden, sahen wir uns in unserem Vorhaben bestärkt und trieben das Projekt mit aller Kraft weiter. Unterdessen prüft das Bundesamt für Strassen sogar bereits, ob der von uns angedachte Tunnel im Ebnet-Hügel realisierbar wäre.
Sergio Marazzi, Mitinhaber des Architekturbüros Marazzi Reinhardt in Winterthur, hat an der ZHAW Architektur studiert und mit einer Masterthesis im Bereich Urban Landscape abgeschlossen. Von 2018 bis 2023 war er Vorstandsmitglied des Forums Architektur Winterthur. Seit 2022 ist er im Vorstand der Ortsgruppe Zürich Aargau Glarus Graubünden des BSA.
Eine grosse Chance für Töss, oder?
Flurina Pescatore: Auf jeden Fall. Wir haben auch ein bisschen mitgemischt und die Idee unterstützt. Verrückt finde ich, dass das Bundesamt für Strassen und die SBB unabhängig voneinander so grosse Infrastrukturen geplant haben. Da musste erst die Stadt kommen, um die Planungen zu koordinieren und zu zeigen, dass dadurch ein Mehrwert entstehen kann.
Sergio Marazzi: Der Planungsprozess in Winterthur Süd ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, dass die Stadt Bund und Kanton mit einer eigenen Agenda auf Augenhöhe begegnen kann. Solche Visionen braucht es, um die Stadt voranzubringen. Jetzt, wo die Ideen auf dem Tisch liegen, werden sie gerne aufgenommen. Und man schafft so den dringend benötigten Platz für das künftige Wachstum.
Jens Andersen: Richtig. Um das bestehende Winterthur zu schonen, braucht es Gebiete, in die man das Wachstum lenken kann. Winterthur Süd ist ein solcher Ort, der letztlich auch selbst nur gewinnen kann.
Zum Schluss ein persönlicher Blick in die Zukunft. Wie wird sich die Stadt Winterthur in 20 Jahren präsentieren?
Sergio Marazzi: Winterthur wird eine Stadt sein, die stärker auf die Aussenräume fokussiert. Das wäre zumindest meine Wunschvorstellung. Eine dichtere Stadt mit mehr Menschen braucht als Ausgleich qualitativ hochstehende Freiräume – nicht nur als identitätsstiftende Aufenthaltsorte für die Bevölkerung, sondern auch, um die Folgen des Klimawandels und der veränderten Mobilität aufzufangen. Das war auch eine wichtige Erkenntnis im Rahmen von ‹Winterthur 2040›.
Flurina Pescatore: Die Tösslobby gibt es ja in erster Linie, weil unser Quartier seit Jahrzehnten von der Zürcherstrasse als grosse Ausfallachse zweigeteilt wird. In meiner Wunschvorstellung gelingt es bis 2040 endlich, dem Langsamverkehr eine höhere Wichtigkeit einzuräumen – auch entlang der grossen Verkehrsachsen wie eben der Zürcherstrasse. Konkret denke ich dabei an breite Strassenquerungen für den Langsamverkehr an zentralen Orten im Quartier, wie sie in der Entwicklungsperspektive 2040 vorgesehen sind. Und natürlich hoffe ich, dass die Vision einer aus der Stadt herausführenden Allee im Rahmen des Projekts Winterthur Süd Realität wird – anstelle der heutigen tristen Autobahnein- und ausfahrten.
Jens Andersen: Meine Vorstellung ist für einmal nicht räumlicher Natur, sondern eher mental. Ich bin sicher, dass wir in 20 Jahren ein Winterthur mit einem starken Selbstbewusstsein haben werden, das auch nach aussen spürbar ist. Diese neue Identität, die es uns endlich ermöglichen wird, aus dem Schatten der Stadt Zürich zu treten und das industrielle Winterthur hinter uns zu lassen, entsteht derzeit parallel zur wachsenden Stadt. Bis sie vollends entwickelt ist, braucht es noch 10 bis 20 Jahre.
Die Tösslobby
Als Dachorganisation vertritt die Tösslobby verschiedene Vereine, Organisationen und Interessensgruppen aus dem Stadtteil Töss. 2006 als Verein gegründet, hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, die nachhaltige Entwicklung des Quartiers zu fördern. Die Tösslobby ist eine Drehscheibe für Anliegen, die den Stadtteil Töss und seine Quartiere betreffen. Dabei konzentriert sie sich auf Themen, die für den gesamten Stadtteil von Bedeutung sind. Die Tösslobby fungiert als Bindeglied zwischen der Bevölkerung, den Vereinen und der Stadtverwaltung.