«Es ist nicht gerecht, dass Gemeinden die Last tragen müssen»

Seit Anfang Jahr ist das Veloweggesetz in Kraft. Der grosse Schritt für die Schweizer Veloförderung provoziert bei manchen aber auch Kritik. Ein Befürworter und ein Kritiker kreuzen die Klingen.

Fotos: Franziska Scheidegger
In Zusammenarbeit mit Energie Schweiz

Seit Anfang Jahr ist das Veloweggesetz in Kraft. Der grosse Schritt für die Schweizer Veloförderung provoziert bei manchen aber auch Kritik. Ein Befürworter und ein Kritiker kreuzen die Klingen.

Das Veloweggesetz verpflichtet seit dem 1. Januar 2023 sowohl den Bund als auch die Schweizer Kantone, das Fahrrad als Verkehrsmittel stärker zu beachten. Sie haben dafür zu sorgen, dass das Velofahren sicherer und einfacher wird. Doch mit der Inkraftsetzung des Gesetzes wird bereits über dessen Umsetzung gestritten. Der Kanton Freiburg etwa hat mit einem eigenen Gesetz schon viel Vorarbeit geleistet. Der Gemeindeverband moniert finanzielle Ungleichheit. Christoph Niederberger, Direktor Schweizerischer Gemeindeverband und Jean-François Steiert, Staatsrat Fribourg im Gespräch.

Wie wirkt das Veloweggesetz im Kanton Freiburg?
Jean-François Steiert: Viele der gesetzlichen Forderungen sind bei uns im Kanton Freiburg bereits erfüllt. Wir haben seit einigen Jahren einen Sachplan Velo, der das Velonetz und die Prioritäten auf Kantonsstrassen definiert. Als früherer Pro-Velo-Präsident freue ich mich, über die Umsetzung der Grundsätze, die wir damals in die Veloinitiative und anschliessend mit Partnern wie FDP-Ständerat Olivier Français in den Gegenvorschlag eingebracht haben. Begrüssenswert sind insbesondere die Planungspflicht, die Finanzierung von Veloinfrastrukturen in Zusammenhang mit dem Nationalstrassennetz oder auch die Unterstützung von Verbänden, die komplementär zum Staat handeln können.

Der Gemeindeverband bemängelt, dass das Gesetz finanziell die Gemeinden, aber nicht den Bund oder die Kantone mehr in die Pflicht nimmt.
Christoph Niederberger: Die Gemeinden sind mit dem Gesetz verpflichtet, sich um die Velowege zu kümmern. Das ist grundsätzlich richtig so. Nicht richtig ist, dass der Bund Vorgaben macht, welche die Gemeinden einfach umsetzen und finanzieren müssen. Grundlegender ist diese Kritik: Das Veloweggesetz hat sich von Anfang an am nationalen Fuss- und Wanderweggesetz orientiert. Bei allem Respekt: Die Fuss- und Wanderwege sind keine strategische Verkehrsinfrastruktur. Die Velowege hingegen schon und sollten darum auch vom Bund finanziell stärker unterstützt werden. Nun sind die Städte und Gemeinden aber selbst dafür verantwortlich, die finanzielle Last des Veloweggesetzes zu tragen. Das ist nicht gerecht.

Herr Steiert, warum wurde das Veloweggesetz mit dem Fuss- und Wanderweggesetz verknüpft?
Jean-François Steiert: Bereits beim Verfassen des Initiativtextes wollte man einen Kompromiss ermöglichen. Mit dem erwähnten Gesetz gab es bereits einen Verfassungsartikel, der sich mit dem Langsamverkehr befasst, was auch nicht problematisch ist. Dass das Gesetz keine grossen Ausgaben für den Bund zur Folge hat, ist ein politischer Kompromiss, um es durch beide Kammern zu bringen. Das Gesetz darf etwas kosten, sollte aber nicht über die Stränge schlagen. Den Vorwurf «Wer befiehlt, der zahlt nicht» kann man also durchaus gelten lassen. Ständerat Matthias Michel verlangt, dass der Bundesrat auch in ländlichen Regionen die Veloinfrastruktur finanziell unterstützt.
Christoph Niederberger: Ich unterstütze dieses Postulat natürlich sehr. Wir verfolgen alle das Ziel, die Veloinfrastruktur möglichst rasch und möglichst gut auszugestalten. Die Frage ist, wie dieses Ziel am schnellsten erreicht werden kann. In anderen Bereichen teilen sich Bund, Kantone und Gemeinden die Finanzierung auf. Auch bei der Veloinfrastruktur kämen wir so schneller vorwärts. Nun müssen Kantone und Gemeinden bis in fünf Jahren ihre Velonetzplanung abgeschlossen haben und dann die Infrastruktur bis in 20 Jahren, also bis Ende 2042, gebaut haben. Da kann man, wenn man will, auf Zeit spielen. Mit einem anderen Finanzierungsmodus wäre die Infrastruktur schneller gebaut.

Befürchtet eine Ausweitung des Stadt-Land-Grabens: Gemeindeverbandspräsident Christoph Niederberger.

Warum finanzieren nicht der Bund, Kantone und Gemeinden zu gleichen Teilen?
Jean-François Steiert: Das Gesetz ist die Umsetzung des politischen Willens. Etwas mehr finanzielle Beteiligung des Bundes wäre mir persönlich auch gelegen. Was die Praxis betrifft: Es gibt nun mal 26 verschiedene Spielregeln in den Kantonen. Wir haben mit dem neuen Mobilitätsgesetz in Freiburg die Möglichkeit, Tempo zu machen. Es sieht vor, ein funktionales Netz über den Kanton zu legen. Wenn man eine Strecke von A nach B betrachtet, bedeutet das: Wenn eine funktional priorisierte Strecke über eine Gemeindestrasse führt, zahlt der Kanton, auch wenn die Strasse der Gemeinde gehört. Es geht dabei nicht ums Giesskannenprinzip, sondern darum, dass der Kanton wichtige Etappen selbst umsetzt.
Christoph Niederberger: Da handelt der Kanton Freiburg natürlich vorbildhaft. Es geht aber nicht um Tafers oder Fribourg, sondern etwa um Herzogenbuchsee und Langenthal. Zwei Berner Gemeinden, die gleich nebeneinander liegen, aber aufgrund der Agglomerationspolitik-Logik völlig unterschiedliche Voraussetzungen haben.

Was genau meinen Sie damit?
Christoph Niederberger: Herzogenbuchsee fällt aufgrund der Grösse der Bevölkerung und weiterer Kriterien beim Agglomerationsprogramm aus der Reihe, Langenthal hingegen kann national und kantonal als Agglomeration profitieren. Ein Beispiel: Wird in Herzogenbuchsee der Bahnhof erneuert, muss der ganz grosse Teil einer Velostation von der Gemeinde selbst finanziert werden, Langenthal dagegen könnte bei solchen Bauvorhaben aufgrund der Teilnahme am Agglomerationsprogramm auf finanzielle Unterstützung des Bundes zählen. Nicht dass Sie mich falsch verstehen: Ich finde das für Langenthal sehr gut, auch haben die Agglomerationsprogramme eine sehr positive Wirkung. Schwieriger ist dagegen die Situation für jene Gemeinden, die aus statistischen Gründen zwischen Stuhl und Bank fallen.

Beim Finanzausgleich belegt der Kanton Freiburg den drittletzten Rang. Wieso kann ein so strukturschwacher Kanton bei Velowegen Geld ausgeben?
Jean-François Steiert: Der Kanton Freiburg ist volkswirtschaftlich schwach. Wir haben ein tiefes Bruttoinlandprodukt. Allerdings hat der Kanton keine Schulden, wir haben ein Vermögen von einer Milliarde Franken. Wir haben damit Geld für Investitionen, um die Wirtschaft zu fördern und Arbeitsplätze im Kanton zu schaffen, also damit die Menschen hier und nicht in Lausanne arbeiten können. Wir betreiben eine aktive Bodenpolitik, in diese Optik gehören auch die Veloinfrastrukturen.
Christoph Niederberger: Es kommt nicht einzig auf den Zustand der Kantonsfinanzen an, sondern auf jene der Gemeinden. Ich befürchte, dass das neue Gesetz den Stadt-Land-Graben bei Veloinfrastrukturen weiter aufreissen könnte.

«Es gibt einen Widerspruch zwischen der realen Bauzeit und der Einsprachefrist.» Jean-François Steiert

Ständerätin Marianne Maret verlangt vom Bundesrat eine Beschleunigung der Aggloprogramme, weil viele der budgetierten Mittel nicht abgeholt werden.
Jean-François Steiert: Es gibt verschiedene Gründe, warum eingereichte Langsamverkehrs- oder Veloinfrastrukturprojekte in den Agglomerationsprogrammen nur sehr langsam umgesetzt werden. Ein Grund ist, dass es in der ersten Generation sicher Städte und Gemeinden gab, die eigentlich andere Projekte umsetzen wollten, aber wussten, dass das Programm ohne Langsamverkehr nicht bewilligt beziehungsweise weniger stark unterstützt wird. Das hat sich heute sicher geändert, weil der politische Druck höher geworden ist. Zweitens gibt es grosse Unterschiede in der Umsetzung. Hier spielt die politische Struktur der Agglomeration eine Rolle. Es gibt stark kantonal gesteuerte Regionen, wo es viel Personal im Hintergrund gibt, das sich effizient um die Umsetzung kümmert. Das ist entscheidender als das Geld. Das Geld kommt meist schon.
Christoph Niederberger: Ich höre aus dem Raum Lausanne, dass beim Agglo-Projekt sehr viele Einsprachen vorliegen, teils auch gegen hoch relevante Infrastrukturprojekte wie Tramlinien. Diese Projekte geraten so ins Stocken, und die in den Aggloprogrammen gesprochenen Gelder dafür können nicht aktiviert werden. Aus der ersten Generation der Agglomerationsprogramme sind noch fast ein Drittel der Gelder nicht abgeholt worden. Aus der letzten Generation weit über die Hälfte. Das ist nicht gut. 
Jean-François Steiert: Es gibt einen Widerspruch zwischen der realen Bauzeit und der Einsprachefrist. Ohne fünfjährigen Prozess mit Einsprachen bis vor Bundesgericht lässt sich heute so gut wie keine Infrastruktur bauen. Vier Jahre, wie in den Aggloprogrammen definiert, sind einfach zu kurz.

Wie lässt sich das Problem lösen?
Jean-François Steiert: Indem zum Beispiel overbooked wird. Das heisst, wir bestellen und lancieren als Kanton manchmal bewusst mehr Projekte, als wir tatsächlich bezahlen können. Das im Wissen darum, dass ein Teil dieser Projekte nicht im geplanten Tempo vorwärtskommt. Schlimmstenfalls gibt es einen Engpass, und ein Projekt muss kurz gebremst werden, in der Praxis geschieht das aber so gut wie nie. Faktisch haben wir in vielen Kantonen und Gemeinden Investitionsbudgets, die mehr Ausgaben vorsehen, als tatsächlich getätigt werden.

Wo hapert es denn?
Christoph Niederberger: Etwa beim administrativen Aufwand. Beim zuständigen Bundesamt liegen alle Projektunterlagen physisch in Papierform in einem Kellerraum. Das sieht aus wie aus einer anderen Zeit. Eine durchgehende Digitalisierung könnte hier vieles bewirken. Auch wollen immer mehr Regionen von den überaus attraktiven Agglomerationsprogrammen profitieren und ihre Perimeter ausweiten. Ich fände das gut, dies wurde aber von den Behörden in vielen Fällen nicht zugelassen.

Woher kommt dieser Wandel?
Christoph Niederberger: Heute ist der politische Widerstand gegenüber Themen wie Tempo 30 oder Verkehrsberuhigungsmassnahmen wesentlich tiefer als noch vor zehn Jahren. Die Mobilität hat gleichzeitig zugenommen. Die Menschen nehmen deutlich längere Strecken von ihrem Wohnort zum Arbeitsort in Kauf, was auch mit dem guten ÖV-Angebot zu tun hat. Und während einst nur ein paar Sport- oder Öko-Freaks längere Strecken mit dem Velo zum Bahnhof gependelt sind, ist das heute für viele Personen ganz normal. Elektrovelos haben die generelle Wegdistanz beim Pendeln vergrössert und somit den Paradigmenwechsel beschleunigt. Das Veloweggesetz verstärkt den Trend vielleicht, herbeiführen tut es ihn aber nicht. Die Wende hat längst davor begonnen.

Offenbar erfüllt Freiburg fast alle Vorgaben des Veloweggesetzes bereits. Oder doch nicht?
Jean-François Steiert: Wir starten relativ tief. Im Vergleich zu Städten wie Burgdorf oder Winterthur haben wir noch viel Arbeit vor uns. Das Mobilitätsgesetz wurde unter Einbezug verschiedenster Akteure entwickelt und ist damit breit abgestützt. Die Umsetzung steht aber noch bevor, und da kommt viel Arbeit auf uns zu. Und wir müssen Geduld haben, der Zeithorizont ist gross.

Wird also auch der Kanton Freiburg die Umsetzungsfrist von 20 Jahren brauchen?
Jean-François Steiert: Bis der letzte Kilometer des Sachplans gebaut ist, braucht es diese Zeit wahrscheinlich schon. Die Bauunternehmen haben schlicht nicht die Kapazität, um alles gleichzeitig zu starten. Wir haben auch geschaut, auf welchen Teilstücken das grösste Potenzial für einen Modaltransfer liegt. Also wie viele Personen durch den Ausbau der Veloinfrastruktur weg vom Auto oder ÖV und hin zum Velo gebracht werden können. Die Spanne reicht von 10 bis 15 Prozent bis hin zu weniger als einem Prozent im ländlichen Raum. Dabei priorisieren wir die Arbeit dort, wo das grösste Potenzial an Modaltransfer liegt.

Staatsrat Steiert sieht im Föderalismus eine Chance für eine produktive Dynamik.

Das Veloweggesetz hält explizit fest, dass Fachorganisationen wie Pro Velo in die Planung mit einbezogen werden können. War das in Freiburg auch der Fall?
Jean-François Steiert: Alle Verkehrsverbände, ACS, Pro Velo, TCS, der VCS waren einbezogen. Der TCS hat, das muss man sich vor Augen führen, mehr Velo fahrende Mitglieder als Pro Velo. Es gibt nicht den Auto- oder den Velofahrer. Die meisten Personen sind beides. In einem ländlichen Kanton wie Freiburg gibt es zudem Strecken, die noch lange mit dem Auto zurückgelegt werden. Es hat an gewissen Orten einfach zu wenig Menschen, als dass sich ein ÖV-Angebot lohnen würde. Gleichzeitig sind die Distanzen für das Velo zu weit. Mit dem müssen wir leben. Wenn wir es hingegen nicht schaffen, diejenigen Personen, die in einem Vorort von Fribourg wohnen und in der Stadt arbeiten, fürs Pendeln weg vom Auto und hin zum Velo zu bringen, dann machen wir unseren Job falsch.

Das neue Gesetz schreibt die Schaffung einer Velofachstelle vor. Wie sieht es diesbezüglich im Kanton Freiburg aus?
Jean-François Steiert: Für den Alltagsverkehr und die Infrastrukturen gibt es das sogenannte ‹Team Velo›. Es besteht aus Personen aus dem Tiefbauamt, aus dem Mobilitätsamt und von Dritten, also Beratungsbüros. Wir treffen uns einmal pro Monat, und es gibt Jahresziele zum Bau und der Priorisierung von Infrastrukturen.
Christoph Niederberger: Da hat die Velolobby gut gearbeitet. Dass Gemeinden Fachorganisationen hinzuziehen können, ist nämlich die einzige Subvention im neuen Gesetz. Hier übernimmt der Bund einen wesentlichen Kostenanteil. Dass sich Gemeinden Unterstützung von Dritten holen können, begrüsse ich aus Sicht des Gemeindeverbands aber sehr.

«Vielleicht ist es dereinst ähnlich wie bei den Kitas: Die Veloinfrastruktur wird zum Standortfaktor.» Christoph Niederberger

Wo stehen wir in fünf Jahren? Werden die Kantone dann auf einem ähnlichen Level stehen, oder blicken wir dann nach wie vor auf ein helvetisches Flickwerk?
Jean-François Steiert: Was die Planung betrifft, sind die meisten Kantone weiter, als man meint. Natürlich in urbanen Gegenden etwas stärker als anderswo. Unterschiede sind aber aus meiner Sicht nichts Falsches. Der Föderalismus bietet die Chance, sich ständig mit den anderen Kantonen zu vergleichen. Das führt zu einer produktiven Dynamik.
Christoph Niederberger: Bezüglich Fortschritt der Planung habe ich keine Bedenken. Höchstens, dass die neuen Planungskriterien Verzögerungen hervorrufen könnten. In fünf Jahren sind wir aber sicher weiter als heute. Vielleicht ist es dereinst ähnlich wie bei den Kitas: Die Kinderkrippen sind heute ein Standortfaktor. Mit der Veloinfrastruktur verhält es sich dann auch so. Wenn man irgendwo hinzieht, schaut man, ob es am neuen Ort beispielsweise gute Abstellplätze am Bahnhof gibt oder sicher und effizient ins Zentrum gependelt werden kann. Das fände ich sehr positiv.

Kommentare

Kommentar schreiben