Der heilige Gral der
Designmethodik

Wie lässt sich mit Gestaltung die Gesundheit fördern? Minou Afzali leitet die Forschung am SCDH und sagt: Diese Frage muss interdisziplinär beantwortet werden.

Fotos: Marco Frauchiger
In Zusammenarbeit mit Swiss Center for Design and Health

Wie lässt sich mit Gestaltung die Gesundheit fördern? Minou Afzali leitet die Forschung am SCDH und sagt: Diese Frage muss interdisziplinär beantwortet werden.

Das Swiss Center for Design and Health (SCDH) richtet sich an alle, die sich für die Schnittstellen interessieren, an denen sich Architektur und Design mit Fragen der Gesundheit treffen. «Diese Schnittstellen werden nicht nur in gebauten Räumen fassbar», erklärt Minou Afzali, Leiterin Forschung. Unter «Räume» versteht sie die gebaute und gestaltete Umwelt. Dazu gehören auch digitale Räume, etwa eine Plattform, die Pflegefachpersonen in der Onkologie mit Informationen und Austauschmöglichkeiten versorgt, oder etwa hybride Settings der Telemedizin, die uns zu Hause unterstützen.

Die Menschen im Zentrum
Als promovierte Sozialanthropologin interessiert sich Minou Afzali dafür, wie Menschen in analogen, digitalen und hybriden Räumen in Bezug auf ihre Gesundheit interagieren. Und als diplomierte Designerin weiss sie auch, dass alles gestaltet ist – nicht nur Räume, sondern auch die Interaktionen und Objekte, die darin ihre Wirkung entfalten. Das reicht vom Kinderpflaster bis zum Anästhesieschlauch, vom Wartezimmer in der Urologie-Praxis bis zum Operationssaal, vom Spitexbesuch bis zur Beratung in der Telemedizin.

Auch das Gesundheitssystem ist gestaltet: Es ist politisch so gewollt. Es bildet denn auch den Systemhorizont, an dem sich das SCDH ausrichtet. Darin eingebettet sind der Technologietransfer, die Kooperationen mit diversen Praxis- und Forschungspartnerinnen und der Aufbau der Weiterbildung. Die Angebote werden unter den Stichworten ‹Visuelle Kommunikation›, ‹Objekte und Umwelt› sowie ‹Systeme und Prozesse› gebündelt. «Unser Ziel ist es, in allen diesen Bereichen Designlösungen und Standards zu erforschen und zu entwickeln, die die Gesundheit fördern», sagt Minou Afzali. Dem heiligen Gral der Designmethodik folgend, werden die Angebote des SCDH menschenzentriert, partizipativ und iterativ entwickelt: «Wir stellen die Menschen ins Zentrum unserer Bemühungen; wir beziehen die Perspektiven aller Beteiligten von Anfang an mit ein und wir wissen auch, dass wir eine gestalterische Lösung im steten Überprüfen finden.» Als Forscherin jedoch ist Minou Afzali besonders am vierten Grundsatz des SCDH interessiert: dem evidenzbasierten Vorgehen.

Kann Architektur heilen?
Denn über allen Bemühungen steht die Frage, ob und wie sich Gesundheit und Gestaltung aufeinander beziehen lassen. Immerhin entspricht es unserer Alltagserfahrung, dass die gebaute Umwelt, die Produkte, mit denen wir interagieren, oder die Dienstleistungen, die wir in Anspruch nehmen, auf unser Wohlbefinden abfärben. Aber kann Architektur heilen? Allein bestimmt nicht, sagt Minou Afzali und fängt überzogene Ansprüche ein. «Es gehören viele weitere Faktoren dazu, dass wir gesund sind.» Als Wissenschaftlerin will sie es genau wissen: Welchen messbaren Einfluss haben Architektur und Design auf die Gesundheit? Dazu gibt es gesicherte Erkenntnisse.

Eine in der Fachzeitschrift ‹Science› erschienene Studie von 1984 markiert den Anfang der Forschungsrichtung Evidenzbasiertes Design, kurz EBD. Unter der Leitung des amerikanischen Professors Roger Ulrich evaluierte ein Forschungsteam Aufzeichnungen von 46 Patienten, die zwischen 1972 und 1981 in einem Krankenhaus im Bundesstaat Pennsylvania die Gallenblase hatten entfernen lassen. Die 23 Personen, die ins Grüne blicken konnten, lagen weniger lange im Spital, erhielten weniger negative Kommentare in den Aufzeichnungen der Pflegenden und nahmen weniger starke Schmerzmittel ein als die andere Hälfte der Gruppe. Diese lag in ähnlichen Zimmern, deren Fenster waren allerdings auf eine Backsteinwand gerichtet. Geht es um die Gesundheit, ist der nachweislich stresslindernde Bezug zur Natur nur einer von vielen Faktoren. Eine Fülle von Studien hat mittlerweile aufgezeigt, wie gut konzipierte und gestaltete Räume, Objekte und Prozesse Spitalinfektionen, medizinische Fehler, Patientenstürze oder Verletzungen des Personals verringern, den Stress von Patientinnen und Pflegenden reduzieren, Produktivität, Sicherheit sowie die ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit verbessern können.

Dieses gesicherte Wissen ist die Basis für neue Forschungs- und Designfragen. Auch für die Forschenden am SCDH. «Wir überprüfen den Forschungsstand und erarbeiten mit unseren Forschungs- und Praxispartnern die Ausgangslage. Fehlen Evidenzen, schaffen wir sie», so skizziert Minou Afzali das Vorgehen. «Darauf aufbauend identifizieren wir Lösungs- und Optimierungsoptionen.» Funktionale Anforderungen an Räume für die Gesundheit basieren auf einer langen Tradition. Tatsächlich steckt viel Wissen in Richtlinien, Standards und Vorgaben. Weshalb braucht es trotzdem neue Evidenz? «Es stimmt, wir bauen seit vielen Jahrhunderten Räume für die Gesundheit. Aber wir forschen und gestalten in spezifischen Kontexten und für unterschiedliche Bedürfnisse», sagt Minou Afzali. Was auf eine Patientengruppe wohltuend wirke, sei für eine andere beängstigend. Je nach Kontext ergeben sich widersprechende Evidenzen. Gestaltung ist immer kontextabhängig. Dabei geht es auch um wahrnehmungspsychologische Fragen. Und damit sind wir mittendrin: Wie kann ästhetische Evidenz erhoben werden? Um diese Frage zu beantworten, arbeiten am SCDH auch Design- und Architekturschaffende.

Hochgradig interdisziplinär
Das Team des SCDH fasst den Begriff Evidenz breit. Minou Afzali: «Daten erheben, beobachten, gestalten und testen – das alles gehört zum evidenzbasierten Gestalten. Und stets gehen wir, wie in jeder Forschung, vom Stand des Wissens aus.» Dieser Stand wird im SCDH aktiv bewirtschaftet, indem Symposien zu Gesundheitsthemen veranstaltet und Gastforschende oder an einem Projekt beteiligte Partner aus dem Hochschulkontext eingeladen werden, ihr Wissen zu teilen und es gemeinsam voranzubringen. «Die Forschenden bringen ihre Expertise mit ein, sie nutzen unser Know-how oder unsere Infrastruktur und können dadurch für ihre Projekte spezifische Antworten finden», erklärt Minou Afzali. Dieser Austausch ist hochgradig interdisziplinär. Das wiederum ist eine Anforderung des grossen Forschungsgebiets Gesundheit. Denn Gesundheit ist laut WHO mehr als die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen. Sie umfasst das vollständige körperliche, geistige und soziale Wohlergehen. Dieses forschend zu gestalten, ist eine grosse Aufgabe, die sinnvollerweise gemeinsam angepackt werden sollte.
 

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