Lernfähige Agglomeration

Die Kleinstadt Bulle erhielt einen Anerkennungspreis für ihre Veloplanung. Was ist davon übrig geblieben? Ein Ortstermin im Kanton Freiburg bringt Ernüchterung und Einsichten.

In Zusammenarbeit mit Energie Schweiz

Die Kleinstadt Bulle erhielt einen Anerkennungspreis für ihre Veloplanung. Was ist davon übrig geblieben? Ein Ortstermin im Kanton Freiburg bringt Ernüchterung und Einsichten.

Es ist ein winterlicher Empfang an diesem Dezembertag. Die Fahrt im Regionalexpress durch das verschneite Freiburger- und Greyerzerland war wie im Bilderbuch. Angekommen in Bulle, zeigt sich eine Ortschaft, wie es zahlreiche gibt im Schweizer Mittelland: changierend zwischen beschaulicher Sechzigerjahre-Architektur und emsiger Bautätigkeit. Warum ein Velo-Ortstermin in Bulle, das man ausser von Ausflügen ins Greyerzerland nicht als Velo-eldorado auf der Landkarte hat? Es gäbe doch andere vorbildliche Kleinstädte wie etwa Burgdorf, das diesbezüglich weiter oben auf der Skala steht.

Grund dafür war der Ansporn der zweitgrössten Freiburger Stadt, ein velofreundliches Klima zu schaffen. Dafür wurde sie 2016 mit dem Anerkennungspreis des Prix Velo Infrastruktur ausgezeichnet. Die Jury schrieb: «Die Stadt Bulle will dem hohen Verkehrsaufkommen im Zentrum mit einem mehrjährigen Veloaktionsplan Einhalt gebieten. Er umfasst Infrastrukturmassnahmen wie zum Beispiel neue Radwege und -streifen, die Öffnung von Einbahnstrassen oder neue Abstellplätze. Er setzt auf Informations- und Begleitmassnahmen, die die Bevölkerung dazu animieren sollen, ihr Mobilitätsverhalten zu überdenken und sich vermehrt auf das Velo zu setzen.»

Am Bahnhof stehen die schnellen Leih-E-Bikes parat.

Wie weit ist Bulle damit? Auf den ersten Blick ist die Stadt kaum vom Fleck gekommen, was wohl auch auf das winterliche Wetter zurückzuführen ist. Am Schluss des dreistündigen Besuchs werde ich drei Velofahrende gesehen haben. Als Erstes fällt der Blick in die ‹Zone Velo› neben dem Bahnhof – wenig mehr als eine eingezäunte Einöde. Die Leihvelos von Pick-e-Bike sind nicht zufällig verschneit, denn die App lässt sich nicht laden. Die modernen Stromerbikes stehen unbenutzt da. Erklärbar ist der unwirtliche Empfang aber auch damit, dass der Bahnhof gerade umgebaut wird. In einem Jahr soll Bulle mit Broc-Village eine Velostation erhalten – die erste im Kanton Freiburg. Es kann also nur besser werden.

Aus der Veloreportage wird eine Stadtwanderung auf Velosuche. Sie führt vom Bahnhof weg auf einen Velo- / Fussweg parallel zur viel befahrenen Rue de Vevey. Praktisch und durchgehend, aber bis auf die blaue Tafel ist er nicht schlüssig signalisiert. Vielleicht wissen im Ort alle Bescheid, warum aber benutzen sie ihn nicht? Immer noch fährt weit und breit kein Velo, dafür viele Autos auf der Hauptstrasse, entlang deren zwei schmale Velostreifen führen. Vielleicht ist ja der Kreisel auf der Hauptstrasse besonders velofreundlich? Fehlanzeige – das aufgemalte Rot in der Mitte ist bloss Kosmetik, die rot eingefärbten Ränder sind ausgebleicht.

Zart gesponnene Velonetzanfänge
Das 24 000 Einwohnerinnen und Einwohner zählende Bulle ist das Voralpentor zwischen Lausanne und der Region Freiburg-Bern, im Sommer Ausgangspunkt für vielfältige Freizeitaktivitäten in der Gruyère-Region – auch für Velotouristinnen. Eine grosse Schweizmobil-Tafel steht prominent vor dem Bahnhof. Im Sommer herrscht hier viel Veloverkehr. Dennoch wollten die Behörden mehr daraus machen. Denn eine Situationsanalyse förderte einen unterdurchschnittlichen Veloanteil am Gesamtverkehr und eine überdurchschnittlich hohe Anzahl veloloser Haushalte zutage. Ein Veloentwicklungsland also.

Der mehrjährige Veloaktionsplan sollte dies ändern. Dazu setzte der Gemeinderat eine Velokommission ein, der nebst Politikern auch Fachleute und Interessenvertreterinnen angehören. Der Massnahmenplan umfasste neben den erwähnten Infrastrukturverbesserungen den Bau einer Velostation am Bahnhof. Der breit gestreute ‹Veloguide›, ein Übersichtsplan mit empfohlenen Veloverbindungen, sollte die Bevölkerung dazu animieren, auf das Fahrrad umzusteigen. Auch ein Velohauslieferdienst wurde geprüft. Auf Nachfrage erklärt Stadtarchitekt Cédric Jungo, dass man zwar «jährlich neue Massnahmen» ergreife, dass aber erst die Eröffnung der Velostation später in diesem Jahr «ein sichtbarer Meilenstein für die Veloförderung» werde. Das Monitoringsystem zeige eine Zunahme der Radverkehrsströme und der abgestellten Fahrräder, aber die Massnahmen in der Innenstadt für weniger motorisierten Individualverkehr (MIV) seien bei Weitem noch nicht erfüllt. Noch immer ist dieser sehr hoch. Das bestätigt Exekutiv-Gemeinderätin Marie-France Roth Pasquier. Die Anstrengungen Richtung Velofreundlichkeit trügen mit einem moderaten Anstieg zwar Früchte: Von 8 Prozent im Jahr 2018 ist die Zahl der Radfahrenden 2021 auf 18,7 Prozent geklettert. Aber es brauche auch einen Mentalitätswandel: «Jedes Mal, wenn wir den Autoverkehr begrenzen wollen, werden wir angegriffen.» Dabei will die Stadtverwaltung bloss die Tempo-30-Zone erweitern, damit das Fahrradfahren sicherer wird.

Quer durch Bulle: das Velo als Alltagsgefährt und -gefährte.

Velolobby kritisiert
Hier setzt die Kritik von Grégoire Kubski an, Grossrat und Vertreter von Pro Velo: «Die Erreichbarkeit der Innenstadt mit dem Auto ist noch immer zu einfach.» Es führen wenige Rad, weil es an Fahrradinfrastruktur und am Bewusstsein der Autofahrenden fehle. Sein Kollege Nicolas Geinoz hofft auf den «Greenway ‹voie verte›, der den Bahnhof ab nächsten Sommer mit einem Industriegebiet und einem Wohngebiet verbinden wird». Auch habe der Stadtrat eine Radverbindung nach Gruyère und zum Freizeitziel Broc bewilligt. Wenig überraschend konstatieren die beiden Velolobbyisten, dass «Radfahren in Bulle noch immer gefährlich ist». Der neue Bahnhof mit der allerersten Velostation des Kantons Freiburg könne nun zum Symbol der Veloförderung werden.

Zum Beweis, dass die Bestrebungen der Stadt Bulle nicht nur warme Luft sind, hat der Gemeindeverbund Mobul – bestehend aus Bulle, Le Pâquier, Morlon, Riaz und Vuadens – beim Agglomerationsprogramm des Bundes ein Gesuch eingereicht. Denn eine Verkehrsverlagerung deckt sich mit den Vorgaben des Bundes zur Senkung des motorisierten Verkehrs. Gemeinderätin Roth Pasquier setzt die eigenen Vorgaben so: «Das Ziel ist ein Modalsplit von 25 Prozent öffentlichem Verkehr, 13 Prozent Langsamverkehr und 62 Prozent motorisiertem Individualverkehr.» Damit läge der motorisierte Verkehr noch immer weit über dem Durchschnitt in Deutschschweizer Städten, wo er klar unter 50 Prozent liegt – wobei dieser Vergleich zwischen Städten und einer ländlichen Agglomeration wie Bulle natürlich mit Vorsicht zu geniessen ist.

Der Kanton unterstützt
Als Koordinator der Agglomerationen des Kantons begrüsst Michael Blanchard das Mobul-Gesuch siehe ‹Mehr Velos, mehr öffentlicher Verkehr›, Seite 24. Der Kanton beteiligt sich nicht nur an der Velostation am Bahnhof, sondern mit rund 6,5 Millionen Franken auch am Kernstück der Langsamverkehrsachse von Bulle, der ‹voie verte›. Überdies zahlt der Kanton jährlich rund 2 Millionen Franken an Langsamverkehrs- und öV-Massnahmen in den Agglomerationen Bulle und Freiburg. Nebst diesen Investitionshilfen unterstützt er die beiden wichtigsten Langsamverkehrsachsen des Kantons mit über 15 Millionen Franken, den Betrag an die ‹voie verte› eingerechnet. Das kürzlich verabschiedete Mobilitätsgesetz schafft die Rechtsgrundlage, um Massnahmen des Agglomerationsprogramms mit bis zu 50 Prozent zu unterstützen.

Der Kanton Freiburg ist auch ausserhalb der Agglomerationen aktiv. So installierte Staatsrat Jean-François Steiert etwa den Sachplan Velo. «Dank diesem werden die Velos seit einiger Zeit bei allen Kantonsstrassenprojekten konsequent mitgedacht», sagt Michael Blanchard. Fachleute aus dem Tiefbau- und Mobilitätsamt kümmern sich in einem sogenannten ‹Teamvélo› um die Bedürfnisse des Veloverkehrs. Das neue Mobilitätsgesetz sieht unter anderem ein vollständiges, separates kantonales Velonetz vor, das ins kantonale Strasseninventar übernommen wird. Dabei wird sich der Kanton an den Planungsgrundsätzen des Veloweggesetzes auf Bundesebene orientieren: So sind die Wege als zusammenhängendes Netz geplant, das mit benachbarten Gemeinden und den angrenzenden Kantonen verbunden ist. Das Gesetz soll Mitte 2023 in Kraft gesetzt werden.

An kalten Tagen war es mit Maske mal ganz angenehm.

Bulle und Freiburg als Vorreiter für die Romandie
«Bulle mit seinen jahrelangen Bemühungen und die Diskussionen in der Agglomeration Freiburg haben einen Sensibilisierungsprozess ausgelöst», anerkennt Michael Blanchard. Im Kanton Freiburg beginne das Umdenken weg vom Auto, hin zu anderen Verkehrsmitteln erst. Mobul sei «vielleicht schon leicht agiler unterwegs, weil die Grösse mit nur fünf Gemeinden überschaubar ist». Auch vereinfacht die flache Topografie den Langsamverkehr. Damit bestätigt die Politik das kräftige Ja zur nationalen Veloinitiative von 2018 – Bulle hat sie mit 76 Prozent, die Stadt Freiburg mit über 80 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Und dann lässt Blanchard das Wort «Gamechanger E-Bike» fallen. Mit dem populären Verkehrsmittel findet nun auch ein Autokanton zu Alternativen. Diese Erkenntnis setzt sich in weiteren Teilen der Romandie langsam durch. Heidi Meyer vom Bundesamt für Strassen (Astra) bestätigt, dass neben Freiburg die Städte Genf, Lausanne sowie Neuenburg, La Chaux-de-Fonds und Le Locle im Rahmen von RUN (Réseau urbain neuchâtelois) Agglomerationsprogramme eingereicht haben. Yverdon liess eine Studie zur Velonutzung für den Schulweg sowie Modellvorhaben für nachhaltige Raumentwicklung (ARE) erarbeiten. Vieles existiere jedoch «erst auf Konzeptstufe», sagt Meyer: «Die Umsetzung der Massnahmen aus früheren Agglomerationsprogrammen verläuft sehr langsam.»

Die Wüste lebt
Dieses Hintergrundwissen erleichtert das Verständnis der Situation in Bulle. Als ich eine sportliche Frau auf einem Lastenvelo zu ihrer Meinung befragen will, winkt sie ab – sie sei in Eile. Dabei meinte ich, Stress sei ein Zürcher Privileg. Schliesslich finde ich doch noch einen Auskunftsfreudigen. Er fährt ein gutes Alltagsrad – kein E-Bike – mit Gepäcktaschen und ist in eine gelbe Signalweste eingepackt, die Luftschlitze seines Helms hat er mit Abdeckband zugeklebt. Nein, er habe kein Problem mit der Infrastruktur, er fahre täglich zehn Kilometer zur Arbeit und habe kein Auto. 10 000 Kilometer legt er mit seinem Zweirad jährlich zurück – basta. Auf dem Weg zum Bahnhof zurück stosse ich nochmals auf eine Velofahrerin, die erwähnte dritte an diesem Tag. Ansonsten sind sie wie vom Erdboden verschluckt – ähnlich wie viele der Velomassnahmen im winterlichen Bulle. Wie sagte doch Pro-Velo-Vertreter Kubski: «Man kann mit dem embryonalen Zustand der Radinfrastruktur in Bulle und Gruyère nicht zufrieden sein.» Es gebe viel zu tun.

Kantonales Velonetz Freiburg, 2018
1
Bulle, 2 Freiburg
Quelle: Kanton Freiburg, Raumplanungs-, Umwelt- und Baudirektion und Amt für Mobilität

Mehr Velos, mehr öffentlicher Verkehr
Mit dem Programm Agglomerationsverkehr (PAV) beteiligt sich der Bund finanziell an Verkehrsprojekten von Städten und Agglomerationen, wenn sie die Verkehrs- und Siedlungsentwicklung aufeinander abstimmen. 2021 hat Mobul, der Gemeindeverbund von Bulle, Le Pâquier, Morlon, Riaz und Vuadens, dafür ein Gesuch eingereicht. Es sieht Kosten von 45,7 Millionen Franken vor und will den Modalsplit des Langsam- und des öffentlichen Verkehrs deutlich erhöhen, von 21 Prozent auf 38 Prozent. Genehmigt der Bund das Gesuch, beteiligt er sich zu 30 bis 50 Prozent an den Kosten. Vorgaben dazu, wie die Ziele zu erreichen sind, macht der Bund nicht. Hingegen gibt es sporadische Wirkungskontrollen.

Kommentare

Kommentar schreiben