Malerische Schönheit, raumbildende Kraft und ein Garten in der Stadt: Carl Spitzweg, der Maler des Biedermeier, ist auch der Maler des Nationalen Forschungsprogramms ‹Neue urbane Qualität›. Hier seine Idylle ‹Im Dachstübchen› von 1849. Fotos: Jean-Marc Pascolo (Repro)

Behaupten und glauben

Behaupten statt prüfen, glauben statt messen. Eine Kritik am Programm 65 des Schweizerischen Nationalfonds für ‹Neue urbane Qualität›.


Und was Verdichtung im Bestand bedeutet.

«Raumgeborgenheit» – das Wort löst Raunen im Landhaussaal aus. 500 Planer, Architektinnenen und Politiker sind in Solothurn versammelt. Zu ihnen spricht Jürg Sulzer, Professor für Städtebau. Ein «Recht auf Stadt für alle», die «Überwindung der Orts- und Raumplanung» und das «Ende der Arealplanung» setzt er als weitere Merkpunkte für die «Stadtwerdung in der Agglomeration». Andächtig hören ihm die mit den Ausführungsbestimmungen des neuen Raumplanungsgesetzes Kämpfenden zu, die an Ausnutzungsziffern Ermatteten, die in den Wüsten der Autobahnkreuze Verlorenen. Ihr Wort zum neuen Tag heisst seit jenem sonnigen Maitag in Solothurn «Raumgeborgenheit in der Ortsplanung».

Eine ‹Synthese‹ und ein ‹Wegweiser›
Jürg Sulzer, der Wortschöpfer, war einst Berns Stadtplaner. Er wurde Professor für Städtebau in Dresden und leitete in seinen letzten Amtsjahren das Nationale Forschungsprogramm ‹Neue urbane Qualität› (NFP 65). In Solothurn stellte er es nun vor – just einen Tag nachdem seine ‹Synthese› und ein ‹Wegweiser zur Stärkung einer nachhaltigen Raumentwicklung› von Brigit-Wehrli Schindler erschienen waren. Die ‹Synthese› fasst die wissenschaftlichen Berichte des NFP 65 zusammen; der ‹Wegweiser› schlägt deren praktische Umsetzung vor. Wissenschaft und Anwendung – ein schönes Doppelpack.
Fünf Millionen Franken hat der ‹Schweizer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung› 2009 der ‹Neuen urbanen Qualität› gegeben; knapp vierzig Projekte wurden eingereicht, fünf ausgewählt (siehe ‹Die Foschungsprojekte› im Anschluss an diesen Text).
Eine gute Hundertschaft Planerinnen, Geografen, Architekten mit Büros oder Professuren oder beidem, Sozialwissenschaftler, Landschaftsarchitekten und Urbanistinnen waren sechs Jahre unterwegs. Von Marc Angélil über Michele Arnaboldi, Dietmar Eberle, Angelus Eisinger, Vittorio Magnago Lampugnani, Christian Schmid, Gerhard Schmitt, Günther Vogt bis Joris Ernest van Wezemael sind etliche von Rang und Namen aus den Architekturhochschulen mit von der Partie. Aber es gibt auch ein Plätzli für Christina Woods, Craig Verzone und ihre Kollegen, die das ‹Urban Gardening› wissenschaftlich geadelt haben. Sie führen im Projekt ‹Food-Urbanism-Initiative› aus, wie Gärtnern und Bauern in der Stadt mehr leisten soll, als bodenverlorenen Städtern Feierabendvergnügen zu sein. Mehr Leute und mehr Gärten, mehr Obst und mehr Dichte.

Die Stadt der Konventionen
Nun ist nicht jedes Thema des NFP 65 so frisch und unkonventionell wie die Gartenfreundschaft. Im Gegenteil, Jürg Sulzer, der Forschungsleiter, fordert für die «Stadtwerdung der Agglomeration», dass «in der Raum- und Ortsplanung das Rad in Städtebau und Architektur nicht immer wieder neu erfunden werden sollte». Das Geländer am Weg zur neuen Stadt ist die Konvention des Städtebaus des 19. Jahrhunderts. Fertig der Unverstand, mit dem tausende Planer und Bauherren die heiter babylonischen Städtebänder von Graubünden zum Bodensee, von dort weiter zum Genfersee und quer von Basel in die Innerschweiz gebaut haben.
Mit dem «Recht auf Stadt» kommen malerische Schönheit, raumbildende Kraft, öffentlicher und grüner Raum in die noch unwirtliche Agglo und dazu Widerstand gegen die Architekten, die sich dem Ensemble nicht unterordnen, sondern Landmarken setzen wollen, so wie sie es von ihren Vorbildern gelernt haben. Carl Spitzweg, der liebenswerte Maler der bürgerlichen Stadtidylle des 19. Jahrhunderts, hätte an solcher Stadtwerdung gewiss grosse Freude. Und hinter ihm klingt Franz Schubert, der als Komponist die zerrissenen Lebensformen und Abgründe jener Zeit mit grosser Musik getröstet hat.

Normative Freude

Eingeweckt in Bilder verblüfft mich, wie die Städtebauer und Architektinnen gegen die Konventionen von Wissenschaft antreten. Schon der Titel des NFP 65 – ‹Neue urbane Qualität› ist normativer Übermut. Man stelle sich vor, wie laut der Protest wäre, hiesse ein NFP für Gentechnik ‹Der neue Mensch›. Aus Jürg Sulzers ‹Synthese› und einigen der sie nährenden Beiträgen sprudeln denn auch die Thesen, Normen und Glaubenssätze. Da wird subjektiv behauptet und beherzt gesetzt, was als gut und wahr zu gelten hat. Ich, der Leser, bin eingeladen zu glauben. Ich tue das gerne, weil mich die Bilder anregen und mir einige Normen vom Gärtnern bis zu den Strategien für urbane Qualität einleuchten, ja gefallen.
Und ich staune dennoch: Erkenntnis, Frage und Theoriebildung – auch das sind noble Zwecke von angewandter Wissenschaft – bleiben hinter der normativen Begeisterung versteckt. Für die Prüfung der Setzungen, Annahmen und Thesen bleibt wenig Kraft übrig. Wer hat zum Beispiel in der nun viel gepriesenen Stadt des 19. Jahrhunderts die Normen bestimmt? Zu wessen Lasten und mit welchem Profit? Welche gesellschaftlichen Verwerfungen und welche wirtschaftlichen Interessen bestimmen welche Formen? Oder – normativ gewendet – welche gesellschaftlichen Bedingungen wären herzustellen, damit «aus der neuen Schönheit des Quartiers sinnlicher Genuss resultiert»? Und so weiter.

Schwuppdiwupp heisst entwerfen forschen
Auch die Empirie, die Prüfung von Thesen im Feld oder im Labor, ist etlichen Stadtwissenschaftern fremd – die schlichte Untersuchung zum Beispiel, warum die Menschen im Einfamilienhaus in Wallisellen, Crissier oder Monte Carasso partout so zufrieden sind, dass sie aus ihrem Rasen keinen Innenhof des Blockrands herstellen wollen. Oder vielleicht doch?
Normative Setzung, subjektive Bilder und persönliche Metaphern sind die wissenschaftlichen Prinzipien der Städtebauer. Sie verlängern das beliebte Berufs- und Selbstbild vom Architekten als ‹homo faber› in die Wissenschaft. Und – schwuppdiwupp – heisst entwerfen forschen. Anschaulich zeigen die drei eigens für das NFP 65 bestellten ‹Fernbilder 2080 zur Stadtwerdung› die Eigenart solcher Wissenschaft. Die Fernbild-Architekten – alle aus Zürich – sitzen als Kapitäne auf der Brücke, kennen Ziel und Kurs und rufen: «Alles wie bisher, volle Kraft voraus.» Was aber sind die Begriffe ihrer Bilder? Wovon gehen sie warum aus? Ob wohl keine technische und keine gesellschaftliche Entwicklung mehr geschieht? Ob in sechzig Jahren auf den schönen, breiten Strassen der Fernbilder noch ein Auto fährt? Und was tun die Menschen, wenn sie genug haben vom ‹Pocket Park›, den ihre urbanen Urgrossmütter einst so schätzten?

Die Fussgängerstadt!
Mir bleibt – aus wissenschaftlicher Neugier und aus praktisch-politischen Gründen – nur eine Frage: Warum spielt die Norm und Form des Verkehrs in der «neuen urbanen Qualität» kaum eine Rolle? Wie soll die zur Stadt gewordene Agglomeration funktionieren, wenn einst doppelt so viele Menschen doppelt so dicht in ihr leben wie heute? Wo bleibt da die normative Setzung? Wohlan – so behaupte ich: Die Stadt gewordene Agglomeration hat kein Tram, kein Velo, keinen Zug und vor allem kein Auto mehr. Sie geht zu Fuss – wie schön.
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Die Synthesen
– Jürg Sulzer, Martina Desax. Stadtwerdung der Agglomeration. Die Suche nach einer neuen urbanen Qualität.
– Brigit Wehrli-Schindler. Urbane Qualität für Stadt und Umland. Ein Wegweiser zur Stärkung einer nachhaltigen Raumentwicklung.

Beide Bücher sind sorgfältig gestaltet (Furore, Basel), zügig geschrieben, anschaulich und darum gut zu lesen. Sie sind erschienen bei Scheidegger & Spiess, Zürich, kosten je 49 Franken und sind zu haben bei www.hochparterre-buecher.ch.

Die Forschungsprojekte
– Urbane Potenziale und Strategien in metropolitanen Territorien – am Beispiel des Metropolitanraums Zürich. Marc Angélil, Kees Christiaanse, Vittorio M. Lampugnani, Christian Schmid und Günther Vogt, alle Professoren ETH Zürich.
– Stadt- und Landschaftsgestaltung – Öffentliche Räume in der «Città Ticino» von morgen. Prof. Michele Arnaboldi, USI Mendrisio.
– Nachhaltige Entwicklungsmuster. Prof. Gerhard Schmitt, ETH Zürich; Prof. Michel Bierlaire, ETH Lausanne; Franz Eberhard, Prof. Piet Eckert, Prof. Angelus Eisinger, Prof. Adrienne Grête-Regamey, ETH Zürich; Prof. Matthias Müller, Silvia Ruoss, Prof. Thomas F. Rutherfoord, ETH Zürich; Markus Schaefer, Michael Stauffacher.
– Die Food Urbanism Initiative. Craig Verzone, Lukas Bertschinger, Prof. Jeffrey Huang, ETH Lausanne; Prof. Michel Dumondel, ETH Zürich, Cristina Woods.
– Urbane Brüche. Lokale Interventionen: Perspektiven einer suburbanen Planung. Prof. Joris Ernest van Wezemael, Universität Freiburg; Prof. Dietmar Eberle, ETH Zürich; Prof. Daniel Kübler, Uni Zürich.

Die Fernbilder 2080
Camponovo Baumgartner Architekten, Zürich; Van de Wetering Atelier für Städtebau, Zürich; Zanoni Architekten, Zürich.

Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe 8/2015 der Zeitschrift Hochparterre.

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Kommentare

Marc Angélil 16.08.2015 10:13
Als einer der so genannten 'Wissenschaftler' des NFP 65 habe ich die Kritik der 'Synthese' des Forschungsprogramms in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift Hochparterre mit Interesse gelesen. Köbi Gantenbeins Ausführungen sind mehr als berechtigt und treffen den Nagel auf den Kopf – ein präziser, zutreffender Kommentar, der auch kritischer hätte ausfallen können, denn die besagte 'Synthese' hat wenig mit den Erkenntnissen und Empfehlungen der Forschungsgruppen zu tun. Obwohl Begriffe wie "Raumgeborgenheit", "Schönheit" und "physische Dichte" an mehreren Veranstaltungen kollektiv debattiert wurden, waren sich viele einig, dass eine differenziertere Betrachtung angemessener wäre und eine wissenschaftlich begründete Terminologie erarbeitet werden müsste. Statt beispielsweise 'Dichte' a priori als zentrales Prinzip des Städtebaus zu deklarieren, empfahlen einige Forschungsgruppen, den Aspekt der 'sozialen Interaktionsdichte' als qualitatives Merkmal städtischer Strukturen in den Vordergrund zu stellen, statt quantitative Eigenschaften hervorzuheben. Ebenso wurde der Titel des Forschungsprogramms 'Neue urbane Qualität' mehrmals hinterfragt, insbesondere hinsichtlich der 'new urbanisms' Bewegung in den Vereinigten Staaten. Man fragt sich ob die Leitungsgruppe effektiv fähig war, die erarbeiteten Grundsätze der Kollegen aufzunehmen und auf sachliche Art und Weise der Öffentlichkeit zu vermitteln. Das ist leider nicht geschehen. In diesem Sinn plant die Forschungsgruppe des Instituts für Städtebau der ETH Zürich eine Gegenposition zum Synthesebericht in einer Buchpublikation mit dem Titel 'Urbane Potenziale und Strategien in metropolitanen Territorien' 2016 in der Edition Hochparterre zu veröffentlichen.
Alain Thierstein 11.08.2015 20:09
stimmungsvoll geschrieben von Köbi, wie immer. Dein Untertitel verweist auf Dahinterliegendes: "..heisst entwerfen forschen". Vor vielen Jahren hat die Architektur an den drei Fakultäten der Schweizer Universitäten deren Forschungsschwäche im ausländischen Vergleich feststellen müssen. Ausweg? Anstelle einer Kultur des Research by Design zu entwickeln hat man den Nationalfonds dazu gebracht, ein eigenes Programm für ETHs/Akademie zu reservieren - siehe Herkunft der Hauptantragsteller. Honni soi mal y pense...
Klaus 10.08.2015 17:28
Da forschen Architekten wie Müller, Schäfer, Eckert, Angélil, Christiaanse, Günter Vogt und Konsorten für Millionen an der Stadt für Morgen, und die Erkennntnis sei Städtebau des 19. Jh., der Blockrand und 'das Ende der Arealplanung'? Entweder sind diese Architekten opportunistische Wendehälse - wir denken was der Auftraggeber bestellt - oder die Erkenntnisse wurden von Jürg Sulzer dermassen verdreht, dass sie nicht die Resultate der Forschung abbilden.
stefan kurath 10.08.2015 15:24
achtung: sulzers synthese ist seine these und hat mit den vielschichtigen resultaten der einzelnen projekte enig bis nichts zu tun. sulzer hat in der synthese bloss seine persönliche unwissenschaftliche meinung kundgetan. das ist der (weitere) (eigentliche) skandal!
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