Jonathan Franzen lässt alle Hoffnung fahren und registriert die Tatsachen: Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?» fragt der amerikanische Erfolgsautor.

Schluss mit dem Selbstbetrug!

Loderer hat Jonathan Franzen gelesen. Der Bestseller-Autor beschreibt, wie wir ungebremst und immer schneller in den Abgrund gleiten. Der Stadtwanderer stellt fest: Die Wirklichkeit ist das Wirkende.

In der französischen Wikipedia-Seite steht zu Jonathan Franzen: «Mouvement: Réalisme hystérique», was ich mit «Schreibstil: hysterischer Realismus» übersetze. Das mag für die Bücher Franzens gelten, die ich alle nicht gelesen habe, doch für seinen Essay «Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?» trifft Hysterie überhaupt nicht zu. Im Gegenteil, es ist eine kühle, sachliche Frage, die der amerikanische Erfolgsautor da stellt. Er lässt alle Hoffnung fahren und registriert die Tatsachen.


Dass zum Beispiel, für jüngere als sechzig, die Wahrscheinlichkeit «eine radikale Destabilisierung des Lebens auf der Erde» zu erleben ziemlich hoch ist. Gemeint sind Dürren, Brände, Überschwemmungen, Hitze und Millionen von Flüchtlingen. Wir haben ja die Vorboten dieser Katastrophen schon erlebt. Wer heute unter dreissig ist hingegen, wird die Destabilisierung sicher am eigenen Leib erfahren. Dazu kommt, dass der Ausstoss von CO2 in den letzten 30 Jahren grösser ist, als in den zwei Jahrhunderten zuvor und weiter wächst.


Wir wissen das und verdrängen es. Warum? Weil wir uns nichts wegnehmen lassen. Was für Franzens Amerikaner gilt, ist für die schweizerische Europäer ebenso wahr: Dass sie «sich äussert ungern bevormunden lassen und keine hohen Steuern und erhebliche Einschränkungen ihres gewohnten Lebensstils hinnehmen, ohne zu rebellieren.» Willst du erfahren was sich wehrt, so frag bei gelben Westen nach. «Sich ernsthaft vorzustellen, die Welt würde fröhlich auf Flugreisen und Grossbildfernseher verzichten, das hat doch etwas von einer Schwarzen Komödie an sich.» Der Konsum ist das Subjekt der Geschichte. Und wohlgemerkt, ein heute 80-jähriger normaler Schweizer wie ich, hat der Atmosphäre seinen Schaden schon zugefügt, muss aber die Folgen nicht mehr erleben.

Bis und nach 2050 sind wir klimaneutral. Garantiert. Tatsächlich aber gleiten wir ungebremst und immer schneller in den Abgrund. Da ist es gesund, wenn einer feststellt: Die Wirklichkeit ist das Wirkende.

Was nun? Wir sollten dem Mut haben, uns einzugestehen, dass wir die Erderwärmung nicht mehr verhindern können. Franzen fragt: «Was passieren könnte, wenn wir uns, anstatt die Realität zu leugnen, die Wahrheit eingestehen.» Franzens Zukunft ist rabenschwarz, doch wer, der noch bei Verstand ist, kann ihm widersprechen? Wir stehen vor einem unlösbaren Problem. Was tun? Wir sollten zuerst und vor allem, die Verdrängung verdrängen. Dazu gehört auch, statt von Megaprojekten zu träumen, die uns vom CO2 befreien, uns den kleineren Schritten zuwenden. Halbe Sachen sind besser als nichts. Wir könnten die drei Gebote für Privilegierte befolgen: Du sollst nicht fliegen. Du sollst kein Fleisch essen. Du sollst nichts wegwerfen. Das wäre ohne schmerzende Einbussen zu verkraften. Es hülfe, reicht aber nicht.


Resignatio sina qua non? Franzen bleibt gelassen. Er stehe jeden Tag auf, gehe zur Arbeit, schätze das Leben und tue so viel er könne für die Menschen, Tiere und Orte, an denen ihm etwas liege. Oder mit meinem Hausphilosophen Günther Anders gefragt: Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an? Franzen erlaubt sich, den Kaiser in neuen Kleidern nackt zu sehen. Er wurde dafür von den Erdrettern beschimpft, er torpediere die gute Sache. Da antwortet er: «Meine Hoffnung richtet sich ja nicht darauf, die Klimakatastrophe abzuwenden, sondern darauf, dass wir es schaffen, besonnen und menschenwürdig damit umzugehen.» Da schreibt ein Realist.

close

Kommentare

Kommentar schreiben