Die unbekümmerte Neubauerei ist zu Ende. Bezeichnend ist, es gibt nicht einen einzigen Umbau in der Futterkiste, schreibt der Stadtwanderer.

Nachlass zu Lebzeiten

Fünf Bücher fassen 30 Jahre Wohnungsbau von Steib Gmür Geschwentner Kyburz Partner (SGGK) zusammen. Benedikt Loderer hat das «Architektenfutter» zu sich genommen. Ein Nachlass zu Lebzeiten.

Da zieht einer, nein vier, Bilanz. Ein Architektenleben lang haben sie in wechselnder Zusammenarbeit Architektur gemacht, genauer Wohnungsbau betrieben. Das ergab einen Fundus, der mir nun in einer sorgfältigen Auslegeordnung vorgeführt wird. Die Erbschaft ist so gross, dass sie einen Schuber, eine Kartonkiste braucht, worin die fünf Bücher wohnen, Format 22 x 28 Zentimeter. Es ist nicht irgendwer, der da publiziert, nein es sind, dem Jahrgang nach, Jakob Steib (1959), Patrick Gmür (1961), Michael Geschwentner (1971) und Matthias Kyburz (1979). Der Primus inter pares heisst Gmür. Er hat uns ja vor 15 Jahren bereits ein elfteiliges Sammelwerk beschert: «Wo ist Zuhause, Mama?» Beim Durchblättern frischte ich meine Erinnerungen auf und entdeckte wieder, wie tief ich damals von zwei Projekten beeindruckt war: «Paul-Clairmont-Strasse» mit den Balkonen und «James» mit den vielen Grundrissen. Alle sind wir um 2010 da hin und staunen gegangen. Für mich sind diese beiden Bauten die Entdeckung des Patrick Gmür.


Nun also eine Kiste mit «Architektenfutter». Ich habe beim fünften Buch begonnen, wo es um «Fünf Gänge für vier Architekten» geht, man isst und trinkt sich das Gericht. Die glorreichen Vier werden bekocht und reden über das Architekturmachen, namentlich ihres. Die Rahmenhandlung Nachtessen ist bewusst gewählt, denn Kochen und Architektur sind ihnen eins. Im Umkehrschluss heisst das, wer nicht kocht, ist kein Architekt, jedenfalls nicht im Büro SGGK. Die Prüfungsaufgabe heisst Spaghetti. Doch reden sie diesmal weniger vom Essen, aber mehr von ihrem Büro, sie erzählen die Bürogeschichte im Tischgespräch. Da habe ich mir einige Merksätze aufgeschrieben: «Wir achten darauf, dass wir Projekte annehmen, in denen wir kreativ sein können.». Was heisst: «Optimismus ist ein Teil des Jobs. Man kann das auch Naivität nennen. Aber das ist nicht schlecht, um sich eben nicht durch zu viel Wissen behindern zu lassen.». Trotzdem: «Beim Thema Nachhaltigkeit müssen wir über unseren Schatten springen. Da gehören wir nicht zur Generation, die das selbstverständlich in ihre Gedankengänge einbaut.». Man spürt, die Vier sind schon lange dabei.


Im ersten Buch geht’s um die Bestandteile. Kapitel eins untersucht die Umgebung des Hauses von der Eingangshalle bis zum Veloraum. Kapitel zwei widmet sich dem, was unter Architekten innere Erschliessung heisst. Das beginnt mit dem Treppenhaus, nimmt den Lift, kommt ins Entrée, durchquert den Korridor, gelangt in die Diele, macht einen Abstecher ins Gäste-WC, erklimmt die Wohnungstreppe und endet auf der Dachterrasse. Kapitel drei beschreibt «Die eigene Welt» sprich die Intimräume. Kapitel vier kommt zu den Alltagsräumen, gemeint sind Wohnzimmer bis Coworking-Space. Kapitel fünf schliesslich redet von den «Dienenden Räumen» vom Estrich bis zum Weinkeller also. Jeder dieser Bestandteile kriegt eine Charakterisierung, nicht ein Rezept, wie man ihn entwirft und baut, sondern eine Anleitung, was er können soll. Aber dringender noch, was der einzelne Raum für das Büro SGGK bedeutet und wie sie ihn einschätzen und behandeln. Es tönt und sieht aus wie Alpöhis Ratschläge an den Geissenpeter oder eine Ermahnung zum wohnungsentwerferischen Wohlverhalten. Wer will, lernt viel dabei.


Mit «Plötzlich diese Übersicht», dem zweiten Buch, wird’s konkret. Schön chronologisch reihen SGGK zwischen 1990 und 2023 ihre Projekte auf. In der Regel werden auf zwei Seiten mit Situationsplan Grundrissen, eventuell Schnitt und einem Kurztext die Bauten als Ganzes vorgestellt. Das Plötzliche an dieser Übersicht war für mich die Fülle. Ich ziehe den Hut vor so viel Erfindung und Hartnäckigkeit. Da fällt mir noch eine der Haupttugenden dieses Architektenfutters auf. Alle fünf Bücher sind von den Buchgestaltern einheitlich durchdesignt, was auch heisst, die Pläne sind alle neu gezeichnet. Der Wille zum Gesamtkunstwerk wird sichtbar. Ein Büromonument ist daraus geworden.


Damit bin ich beim dicksten und wichtigsten der Bücher. Nummer drei betreibt Grundrisskunde unter dem Motto «Immer das Gleiche, aber immer anders». Einheitlich dargestellt, 1:100 und mit Möblierung versehen, ist diese Sammlung für die Architekten ein Bergwerk und eine Fundgrube. Ich beschränke mich auf meine schönsten Entdeckungen. Da ist zuerst «Miller’s Crossing» (S. 45). Dort wird aus einer Diele flächesparend auch das Wohnzimmer und der Essplatz. Dann «How Deep Is Your Love?» (S. 80) ein fast 30 Meter tiefer Grundriss, der in der Mitte, wo’s dunkel ist, eine zweigeschossige Zone hat. Hier fände ich hohe Wände für meine Büchergestelle. Die tiefe Liebe wohnt in einer 3,5-Zimmerwohnung mit 167 Quadratmetern. Die Wohnungen von SGGK sind zuweilen äusserts grosszügig geschneidert, sprich so richtig züriteuer. «Gone With the Wind» (S. 110) heisst ein trickreiches, viergeschossiges Reihenhaus mit einer Kaskadentreppe und kreuzweise übergreifender Ausnützung der Doppelbreite. Dann noch «Kein Gramm Fett» (S. 228) mit vier Zimmern und 87 Quadratmetern. SGGK können beides: Die gestopfte Wohnung für die höheren Stände und die knappe für die Genossenschaft. Etwas maulen muss ich doch. Die Grundrisse werden als Einzelobjekte präsentiert, sind isolierte Präparate. Der Zusammenhang im Gebäude wird zwar mit einer Briefmarke, worauf der Baukörper abgekürzt dargestellt ist, erklärt, doch will ich wirklich drauskommen, so muss ich im dritten Band mühselig die entsprechende Überbauung suchen. Buch zwei und drei gehörten zusammen. Übrigens werden mir im dritten Buch als Zugabe die Rezepte für die architektischen Spaghetti mitgeteilt (mit Bildern in Betty Bossi-Qualität). Vielleicht könnte ich nun die Spaghettiprüfung bestehen.


Bleibt noch das vierte Buch: «Ich will nie mehr weg». Darin kommen die Bewohner zur Sprache. Sie loben viel und tadeln wenig. Doch ist es nicht, was sie sagen, was mich beeindruckt, sondern wie sie wohnen. Bisher war alles ein Gespräch unter Pfarrerstöchtern, will sagen Plan und Wort aus des Architekten Kopf. Nun sehe ich in die Wohnungen, wie sie möbliert sind, aber, und das vor allem, wie sie «sich anfühlen». Am Anfang jeder Besichtigung steht ein Grundriss und ein Orientierungsschema des Gebäudes. Schau ich mir nun die Bilder an, so versuche ich im Plan den Standort des Fotografen zu finden. Der Sprung vom Bild zum Plan heisst die Wohnung verstehen. Darum halte ich das vierte Buch für das studierenswerteste. Es ist die Probe aufs Exempel.
Hervorzuheben ist noch: Die vier Helden und mit ihnen die Mitarbeiter und -innen haben Freude an ihrem Beruf. Man spürt ihre Lust aufs Architekturmachen. Sie arbeiten hart und seriös, aber sind nie verbohrt. Man lacht vermutlich viel in diesem Büro. Noch etwas, das selten ist unter Architekten: SGGK haben Selbstironie. Die Illustrationen beweisen es.  


Ja und nun? Die Kiste mit Architektenfutter hat etwas von einem Testament. Es ist ein Nachlass zu Lebzeiten. Die vier Architekten zählten zusammen. Sie merkten, derzeit hört etwas auf. Die unbekümmerte Neubauerei ist zu Ende. Bezeichnend ist, es gibt nicht einen einzigen Umbau in der Futterkiste. Doch der Wind hat gedreht. Der neue Kurs ist zwar noch unklar, doch er geht Richtung differenzierte Erhaltung. Ich habe eine Abschiedsvorlesung auf meinem Tisch.

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