Scheller plädiert für Offenheit, die er mit Imagination verbindet. Man muss über seine eigene Identität hinauskommen, zum ironischen Menschen werden, schliesst der Stadtwanderer daraus.

Im Lande Essentia

Benedikt Loderer hat «Identität im Zwielicht» von Jörg Scheller gelesen. Identität ist ein Kampfruf geworden, ausgestossen von jenen Leuten, die eine haben. Nachhilfeunterricht für den Stadtwanderer.

Identität? Das war für mich ein Begriff aus der Geometrie. Zwei Dreiecke sind identisch, wenn… Doch dann schlich sich das Wort «Identität» in die Zeitungen und ich nahm es mit Widerwillen zur Kenntnis. «Nur Stämme werden überleben» fand ich noch witzig, doch als es um die Frage ging, ob nur schwule Schauspieler schwule Rollen spielen dürfen, da war ich irritiert und reagierte mit Abwehr. Darauf habe ich für mich das Problem mit einem starken Satz gelöst: Wo Identität draufsteht, ist Selbstbetrug drin. Dazu kommt: Niemand hat das Recht, nie beleidigt zu werden. Das war’s.


Aber nur vorläufig, denn ich traf Jörg Scheller, der mir sein Buch «Identität im Zwielicht» in die Hand drückte. Ein Mann, der eine Dissertation über Arnold Schwarzenegger schrieb und einen Lebensstil «zwischen Universität und Fitnesscenter, Heavy Metal und Biedermeier, West- und Osteuropa» pflegt und Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste ist. Einer auch, der all das gelesen hat, was ich schlampig beiseite liess: Die zugehörige Theorie, namentlich aus den USA. Andersherum, ich musste nachsitzen.


Ich lernte ein mir nur dem Hörensagen bekanntes Land kennen: Essentia. Das ist dort, wo die Stämme leben. Dort hausen Essentialisten. Das sind Leute, die in der Welt des Entweder-Oder leben, die einer einzigen Eigenschaft unterworfen sind. Entweder weiss oder schwarz, entweder Frau oder Mann, entweder schwul oder hetero, entweder alt und weiss oder jung und farbig, entweder Patriarch oder Unterdrückte und so weiter ad infinitum. Da merkte ich, dass ich mich als Entweder-Oder-Mensch nicht eigne, dass ich ein laxer Sowohl-Alsauch bin. Ein Beispiel nur: Als ich noch Ministrant war, da war ich ein Essentialist und ich teilte die Nachbarschaft in Katholen und Evangelen ein – entweder oder. Heute weiss ich von niemandem mehr, zu welcher Sorte er gehört.


Doch bin ich nicht à jour, lese ich bei Scheller. Heute gilt es sich zu entscheiden. Nur so aus freiem Willen wird mir das nicht gelingen. Denn es ist über mich schon entschieden worden, ich bin verurteilt. Da ich weiss und alt bin, ist auch klar, wie ich bin, ergo auch, wer ich bin. Ich bin längst eingeteilt, bewohne die Schublade, in die mich meine Essenz steckt und komme da nur schwer wieder hinaus. Vor allem ist es nur eine Schublade, sprich, ich werde nur nach einer einzigen meiner Eigenschaften einsortiert, alter weisser Mann eben. Doch ist’s vertrackt, je nachdem, wer mich beurteilt, werde ich in verschiedene, aber «richtige» Schubladen gesteckt, male chauvinist pig von den radikalen Feministinnen, Wehrkraftzersetzer durch die Offiziersgesellschaft. Es gibt kein Leben ausserhalb der Schublade.


Scheller argumentiert selbstverständlich weit differenzierter und arbeitet die Widersprüche und Sackgassen des Essentialismus schrittweise heraus. Er macht zwei Hauptkapitel: Thinking Identiy Politics, Theorien, Ideen und Diskurse also, das Denken darüber und dahinter. Dann Doing Identity Politics, die Praxis in der Medienöffentlichkeit, was alltäglich abgeht. Da zeigt sich, dass ich von der Identität so wenig angekränkelt bin, weil ich die sozialen Medien nicht nutze. Am Schluss plädiert Scheller für Offenheit, die er mit Imagination verbindet. Man muss über seine eigene Identität hinauskommen, zum ironischen Menschen werden. Das sind Leute, die sich nicht zu ernst nehmen, die spielen können, was das Gegenteil der Essentialisierung ist. Die einseitig Identischen sind alle humorlos, weil sie die Wahrheit haben. Sie lachen nicht, schon gar nicht über sich selbst. «Kennzeichen des autoritären Charakters ist die Intoleranz gegenüber der Mehrdeutigkeit». Diese Leute leben im Lande Essentia, da, wo nach Musil, die Ordnung in Totschlag übergeht.


Eines ist mir noch besonders aufgefallen: Der kommerzielle Nutzen der Identitätsmanie. Da einheitliche Gruppen gebildet werden, können sie auch direkt adressiert werden: Kauft die identitätsstärkende Brillantine, ihr Graese-Fans! «Identität schafft Distinktion. Distinktion schafft Neues. Nicht zuletzt neue Märkte. So wird Identitätspolitik Identitätsökonomie.»


Und jetzt? Identität ist ein Rettungsanker, der mich hält. Ich gehöre dazu. Weiss, wo ich stehe, bin orientiert, was im doppelten Sinn gerichtet heisst. Doch schränkt die Wahl/Verurteilung meine Lebensbreite enorm ein. Wenn ich endlich weiss, zu welcher Meute ich gehöre, muss ich auch mit ihr laufen, ich bleibe in der Spur. Der einsame Wolf, der durch die Höhen streift, wird ausgestossen. Am Schluss läuft es immer auf ein Wir gegen die andern hinaus. Abgrenzung heisst: Nie über den Haag fressen, auch wenn dort die saftigsten Gräser wachsen. Identität als Essentialismus ist Selbstbeschränkung, die sich als Überzeugung tarnt. Was mich verkümmert, macht mich gross.


Ja und nun, wie steht es nun mit meiner Identität? Ich bin ein Multipel.


P.S. Da lese ich bei Karl Kraus in «Sprüche und Widersprüche», 1923: «Den Hut vor der Monstranz zu ziehen, ist bei weiten keine so grosse Genugtuung wie ihn jenen vom Kopf zu schlagen, die andersgläubig sind.»

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