Die Architekten, die schon während dem Krieg den Wiederaufbau planten, waren dieselben, die nachher ihn auch verwirklichten, schreibt der Stadtwanderer.

Bremen und die Folgen

Benedikt Loderer ist nach Bremen gereist und hat sich danach im Bücherdickicht zwischen Stadtmusikanten und Wiederaufbau verirrt. Er stellte fest: Die Wiederaufbauplanung ist die Fortsetzung der Naziplanung.

Ich reiste nach Bremen, eine Stadt, die seit langem auf meiner Wunschliste stand. In der Altjahrswoche wanderte ich dort Stadt. Als ich wieder zurück in Biel war, da machte ich die Hausaufgaben, die ich vor dem Besuch hätte machen sollen: Ich las, was über Bremen bei mir vorhanden war. Logo, die Bremer Stadtmusikanten zuerst. Die Brüder Grimm erzählten mir das Märchen von den grauen Panthern von damals. Einen Satz daraus sitzt ich noch im Kopf: «Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.» Hat das mit den Flüchtlingen von heute etwas zu tun? Das darf nicht sein. Überrascht hat mich, dass Esel, Hund, Katze und Hahn gar nie bis Bremen gekommen sind. Sie machten sich’s im Räuberhaus bequem, eine Hausbesetzung. Kaum hatte ich das erste Märchen gelesen, blieb ich kleben und las munter weiter.

Doch dann ermahnte ich mich zu seriöserer Lektüre. Im gewichtigen zweiten Band von «Träume in Trümmern, Planungen zum Wiederaufbau zerstörter Städte im Westen Deutschlands 1940-1950» begann ich pflichtbewusst mit dem Artikel Bremen. 15 Städte werden im Buch nach dem gleichen Schema untersucht: Vorgeschichte, Zerstörung und dann die Windungen der Wiederaufbauplanung, schliesslich die gebauten Ergebnisse. Beim Lesen stellte ich fest: Ich habe wenig gemerkt auf meinen Stadtwanderungen. Heute 79 Jahre nach dem Krieg wirkt Bremen so normal wie Zürich. Jedenfalls, wenn man ausserhalb der herausgeputzten Altstadt wandert. Andersherum: Man sieht nur, was man weiss. Ich irrte blind umher, genauer, der Nase nach. Wie ein Tourist hielt ich mich an die monumentale Gruppe von Dom, Marktplatz, Rathaus und Zubehör, Stichwort Weserrenaissance. Ich raffte mich sogar auf, den Stadtgrundriss zu zeichnen und kam ans Ende meiner Kunst. Ich brachte die schief miteinander verbundenen Plätze nicht aufs Blatt. Was mir vor vierzig Jahren in Italien gelang, verheite mir in Bremen ab. Henusode.


Mit klammheimlicher Freude habe ich auch den Artikel Mainz im Panorama der untersuchten Fälle gelesen. Frankreich, am Ende des Kriegs von den Amerikanern und den Engländern wieder im Club der Grossen Vier aufgenommen, hatte auch Grosses vor. Mainz sollte die Hauptstadt des französischen Sektors werden. Die Franzosen waren gewillt, in Deutschland zu bleiben, stellten sich eine Art von Kolonie in Deutschland vor. So planten sie den Wiederaufbau in Mainz mit Grandeur. Sie wussten es besser als die deutschen Weiterfahrer, denn unterdessen war la Charte d’Athènes zum Handbuch der französischen Stadtbaukunst aufgestiegen und Marcel Lods, der nach Mainz abkommandierte Architekt, plante die Tabula rasa, darauf eine Zukunftsstadt mit einer Schar von Scheibenhochhäusern des Typs Unité.  Abräumen, was noch da ist und ganz von vorn beginnen, war sein Ansatz. Sein Projekt blieb im Widerstand der deutschen Bedenkenträger stecken, und ja, Karl Gruber, der in Mainz zum ersten Mal auftauchte, war mit dabei. Die Referenz von Lods zu Le Corbusiers Planung für Saint-Dié ist offensichtlich. Es ist in beiden Fällen nichts daraus geworden. Würden wir heute die Unités abreissen und ein «historisches» Mainz rekonstruieren?  


Doch gibt’s auch noch den ersten Band «Konzepte». Da lernte ich, dass die Behauptung von der Stunde null, die Erzählung vom grossen Bruch, vor allem der Distanzierung zu den tausend Jahren diente. Ein kollektiver Selbstbetrug. Nichts da von Zurückkehren ins Jahr 1933, vom Anknüpfen an die wiederentdeckte Moderne, nein es herrschte die unerschütterliche Kontinuität. Die Wiederaufbauplanung ist die Fortsetzung der Naziplanung. Die Architekten, die schon während dem Krieg den Wiederaufbau planten, waren dieselben, die nachher ihn auch verwirklichten. Die meisten waren Mitglieder des «Arbeitsstabs Wiederaufbauplanung zerstörter Städte» gewesen, den Albert Speer, Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion, geschaffen hatte. Zum Beispiel Konstanty Gutschow, Friedrich Tamms, Julius Schulte-Frohlinde, Rudolf Wolters, Hanns Dustmann, die alle nach dem Krieg entschlossen weiter machten. Ergänzen muss man die Liste mit Ernst Neufert, Wilhelm Wortmann, Karl Gruber, Paul Schmitthenner, Herbert Rimpl und vielen weiteren. All das ist in «Deutsche Architekten. Biografische Verflechtungen 1900-1970» nachzulesen.


Dann geriet ich auf einen Nebenweg: Ein Name tauchte auf, der mich in Gang setzte: Karl Gruber (1885-1966). Schon vor Jahren hatte ich antiquarisch seine Mappe «Eine deutsche Stadt» gekauft, ein Schulbeispiel, wie sich eine Idealstadt zwischen 1180 und 1750 entwickelt haben könnte. Fünf grossen Tafeln, akribisch gezeichnet. Ich war hingerissen. Las den Text nicht und bewunderte die Zeichnungen. Grubers Isometrien von mittelalterlichen Städten tauchten später in den Büchern immer wieder auf, ich fand sie immer hervorragend. Dieser Karl Gruber, von dem ich nichts wusste, war also auch einer von denen. Andreas Romero klärte mich auf. Er hat eine Biographie Grubers geschrieben, die im Büchergestell seit 1990 auf die Lektüre wartete.


Ich verfolgte also lesend den Lebenslauf «eines sehr deutschen Architekten», eines Mannes, der im Mittelalter den Höhepunkt der kulturellen Entwicklung sah, der unter den beiden Stichworten ordo und religio, lateinisch kleinzuschreiben, sich ein ideales Mittelalter zusammenreimte und -leimte. Er war überzeugt: Mit der Renaissance beginnt der Abstieg, die Grossstadt des Industriezeitalters ist sein tiefster Abgrund. Eine Parallelaktion wie Romero schreibt: «Er erläutert, wie sich in der Stadt sowohl in der Antike von Griechenland nach Rom als auch im Mittelalter zur Neuzeit, die Dominanz des Sakralen zur Dominanz des Profanen, schliesslich zur Hypertrophie der menschlichen Macht hin verschoben habe.»


Ich war ernüchtert. Gruber, den ich bewunderte, erwies sich als Geschichtsfälscher. Sein Mittelalter war eine Schönwetterkonstruktion, seine Idee, das zerstörte Deutschland mit religio, was immer das nach 1945 sei, aufzurichten, war weltfremd. Noch ein Selbstbetrug. Immerhin, heute entdecken wir ihn «gewissermassen neu und stellen erstaunt fest, dass er einer der Vorkämpfer der behutsamen Stadtentwicklung» gewesen war, der allerdings keine Wirkung hatte. Sein Opus magnum «Die Gestalt der deutschen Stadt» habe ich darauf mit Skepsis durchgeblättert. Eines bleibt: Die Zeichnungen sind immer noch hinreissend.  


So geht’s, wenn man erst zuhause die Hausaufgaben macht.

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