Topotek 1 gewinnen in Biel mit einem Projekt, das eine Kopie eines
Entwurfs von Karamuk Kuo sein soll, so sieht es Jürg Graser.
Er will zur Diskussion anregen und hat einen Rekurs eingereicht.
Stellen wir uns eine Balkenwaage vor, eine wie sie zum Beispiel die Apotheker früher benutzten. Auf der einen Seite schreiben wir ‹Plagiat›, auf der andern ‹kein Plagiat›. Nun machen wir uns auf die Suche nach gewichtigen Argumenten, die wir in die Waagschalen werfen. Auf welche Seite sich die Waage wohl senken wird?Vergleichen wir also das Bieler Siegerprojekt von Topotek 1 mit dem Projekt, das Karamuk Kuo vor mehr als zwei Jahren für die Schule an der Zürcher Thurgauerstrasse gezeichnet haben. Beide entworfen für grosse städtische Primarschulen, beide an offenen Projektwettbewerben eingereicht.
Verblüffend ähnlich
Erstens gleichen sich die Aussenvisualisierungen: Beide sind frontal gezeichnet, beide vermitteln die gleiche Art von Architektur mit Platten, Stützen, Balken und viel Glas Seite 6. Und sie zeigen zwei eher grossflächige Volumen. Zweitens fallen die zweigeschossigen Aussenräume im Obergeschoss auf. In den Grundrissen Seite 8 sind die drei Terrassen sogar an den gleichen Stellen platziert. Umlaufende Balkone für die Fluchtwege finden sich drittens in beiden Projekten, genauso wie Fluchttreppen, die in die zweigeschossigen Loggien führen.
Man kann nun einwenden: Frontale Perspektiven sind zurzeit en vogue und finden sich in zahlreichen Wettbewerbsabgaben. Die eher flachen Volumen erklären sich aus den Programmvorgaben mit dem Wunsch nach Clustergrundrissen, sie sind auch an anderen Wettbewerben häufig zu sehen. Auch zweigeschossige Aussenräume gibt es in der Architektur schon lange, und umlaufende Fluchtbalkone sind keine Neuerfindung. Doch die Kombination all dieser Elemente ist in den zwei Entwürfen so verblüffend ähnlich, dass man an eine Kopie denkt. Diese Architekten hatten das Projekt von Ünal Karamuk und Jeannette Kuo auf dem Tisch oder mindestens auf dem Schirm. Unsere Waage senkt sich auf die Seite des Plagiats. Denn das Projekt ist schon publiziert, und zwar ausführlich auf der büroeigenen Webseite. Auch in der Zeitschrift ‹El Croquis›, das eine Ausgabe dem Zürcher Büro widmete, war es zu sehen. Und Jeannette Kuo hatte es an einem öffentlichen Vortrag vorgestellt. Das wären also genug Gelegenheiten gewesen, um die Pläne studieren zu können.
Doch schon kommen die ersten Zweifel. Wieso kopiert da jemand ein Projekt, das den Wettbewerb nicht gewann, nicht mal einen Preis ergatterte? Wahrscheinlich waren der damaligen Zürcher Jury die Fluchtwege zu aufwendig und die Fassadenabwicklung zu gross. Aber vor allem ist der neue Schulgrundriss in Biel komplett anders, sogar um einiges stringenter, das heisst besser auf das Thema der zweigeschossigen Aussenräume ausgerichtet. Das ist zweifelsfrei eine Weiterentwicklung. Während Karamuk Kuo ihr Haus noch in Beton dachten, schlägt Topotek 1 eine Holzkonstruktion vor. Und überhaupt: Haben wir nicht im Studium gelernt, dass in der Architektur keine Erfindungen mehr möglich sind, weil schon alles gebaut oder gezeichnet ist? Wir sollten nicht erfinden, sondern finden. Architektinnen und Architekten besuchen viele Häuser, haben sie auch im Kopf. Viele Büros arbeiten mit Referenzprojekten. So auch Karamuk Kuo, die sogar auf den Abgabeplänen für den Zürcher Wettbewerb ein Bild der Freiluftschule in Amsterdam zeigten, die Johannes Duiker 1931 gebaut hatte. Architekturelemente verwenden, Projekte weiterentwickeln – eine Strategie, die in der Architektur verbreitet und legitim ist. Die Waagschale Plagiat hebt sich leicht.
Gleiche Lösung für gleiche Probleme
Wir besuchen Dan Budik von Topotek 1. Vom Plagiatsvorwurf über die gerichtliche Beschwerde war er überrascht: « Es ist eine unangenehme Situation für uns, denn eine Ähnlichkeit der Projekte ist nicht von der Hand zu weisen. » Er führt den Schweizer Ableger des Berliner Büros Topotek 1, das mit Landschaftsarchitektur gross geworden ist. Genauer: Er leitet die 2017 neu gegründete Architekturabteilung, sieben bis acht Architekten arbeiten in Berlin, vier bis fünf in Zürich. Budik war vor langer Zeit als Praktikant im Büro, interessierte sich damals wie heute für den grossen Massstab. Ein Konzerthaus für 1700 Personen in Nürnberg, ein Bürohaus in Kuwait, ein städtebauliches Projekt in Rom, und jetzt Biel – die Architekten des Landschaftsarchitekturbüros sind erfolgreich.
Die Aussenvisualisierung von Karamuk Kuo habe er gekannt, gibt Budik unumwunden zu. Denn er kennt Ünal Karamuk. Zwei Jahre lang waren sie gemeinsam am Lehrstuhl von Christian Kerez. Das Projekt habe er aber nie genauer studiert, es weder im Schnitt noch im Grundriss gekannt. Dann zeigt er sein Projekt für das Bürohaus der WHO in Genf, wo er 2014 bereits mit zweigeschossigen Loggien experimentierte. Um seine damalige Referenz zu zeigen, die er auch auf den Plänen abbildete, holt er ein Buch der amerikanischen Architekten Kevin Roche und John Dinkeloo. Tatsächlich, im Hauptsitz für die damalige Firma Richardson-Merrell von 1970 sind mehrere zweigeschossige Aussenräume verteilt.
Dann erklärt er den Bieler Entwurf von topotek 1. Wie die Parzelle aus städtebaulichen Überlegungen aufspannt ist, wie der Platz eng war und darum auch andere Projekte Aussenräume ins Obergeschoss verlegten, wie sich der dreiteilige Grundriss aus dem Raumprogramm ableitet. Es tönt plausibel. Ist es naiv, ihm zu glauben? Doch kein Plagiat, meint die Waage. Für ähnliche Aufgaben mit ähnlichen Problemen können die Architekten auch auf ähnliche Lösungen kommen. Wir sind alle auch nur Architekten unserer Zeit. Alles womöglich ein Zufall? Vielleicht höchstens noch von Projektzitaten beeinflusst, die dem Architekten nicht bewusst waren.
Abgekürzter Weg
In der Bieler Jury hat man nichts gemerkt, ein mögliches Plagiat war kein Thema. Auch wenn die Fachleute die aktuelle Diskussion kennen müssten, wollen wir ihr keinen Vorwurf machen. Man kann unmöglich alle Projekte kennen, die jemals an einem Wettbewerb abgegeben worden sind. Die Siegerprojekte vielleicht schon noch, aber eben: Karamuk Kuo hatten nicht gewonnen.
Ünal Karamuk und Jeannette Kuo wollen sich nicht zum Fall äussern, vor allem nicht gegen Dan Budik, den sie gut kennen. Wie wir hören, haben sie sich bei einem Kaffee ausgesprochen. Wir nehmen an, dass sie sich geschmeichelt fühlten, wenn ein eigenes Projekt plötzlich als Referenz dient. Es gibt in der Schweiz eine lebendige Wettbewerbsszene. Man redet über andere Projekte, tauscht sich aus, arbeitet in verschiedenen Konstellationen miteinander. Doch wie geht man respektvoll mit den Ideen von Arbeitskollegen um? Die Wissenschaft kennt das Zitat. Ideen sind da und soll man weitertreiben. Das ist der Kern der Forschung. Oder ist am Ende gar egal, wohin unsere Waage zeigt? Alles ist im Zeitalter der Digitalisierung verfügbar, alles ist veränderbar. ‹Open Source› ist eine Qualität und ein Antrieb einer offenen Gesellschaft. Darf man darum alles verwenden?
Nein, meint Architekt Jürg Graser. Sein Büro hat auch am Wettbewerb in Biel teilgenommen und es auf den sechsten Rang geschafft. Der Entwurf von Topotek 1 sei, was die schöpferische und kreative Leistung betreffe, sehr nahe beim Entwurf von Karamuk Kuo. Das Projekt sei nur noch an die Topografie angepasst und leicht ausgearbeitet worden. Oder in einem Bild gesprochen: Da hat jemand das steilste Stück der Wanderung mit der Seilbahn abgekürzt, um dann gemütlich die Hochebene zu geniessen, während die andern es bis dort gar nicht erst schafften. Als schlechter Verlierer will Graser nicht dastehen, aber zur Diskussion anregen: Darf man nur eigene Ideen weiterentwickeln? Darf man fremde Ideen, wie in der Wissenschaft üblich, unter Namensnennung zitieren? Darf man fremde Ideen ohne Nennung des Originals übernehmen und weiterentwickeln? Das Urheberrecht sei Gesetz, es gelte unabhängig davon, ob die Architekten es anwenden wollen oder nicht, meint Jürg Graser. Um Antworten zu erhalten, hat er den Rekurs eingereicht.
Doch der Regierungsstatthalter ist nicht auf die Beschwerde eingetreten. Wegen eines Formfehlers, lässt uns Jürg Graser wissen, «dem Beschwerdeführer fehlt es an einem aktuellen und praktischen Interesse an der Beschwerdeführung», hören wir ausser anderer Quelle ohne das Dokument zu kennen. Auch die Standeskommission des SIA sollte Stellung beziehen. Graser hat einen Brief geschrieben, aber eine für ihn unbefriedigende Antwort erhalten. Wir kennen auch diesen Inhalt nicht. Denn die Standeskommission der Berufsgruppe Architektur «äussert sich nicht zu einem laufenden Verfahren», lässt uns deren Präsident Jacques Aeschimann ausrichten. Man wolle die heisse Kartoffel nicht anfassen, sagt Graser und ist enttäuscht, dass niemand zum Fall etwas Substanzielles sagt. Bei Redaktionsschluss ist noch unklar, wie es weitergeht. Graser verspürt wenig Lust, alleine die Grundsatzdiskussion anzutreiben, liess aber trotzdem offen, ob er den Rekurs weiterziehen will. Die Balkenwaage, wie sie übrigens Justitia auch trägt, schwankt noch leicht hin und her. Weder der Regierungsstatthalter noch die Standeskommission haben sie hervorgeholt. Darum, liebe Leserin, lieber Leser, entscheiden Sie selbst, auf welche Seite die Waage kippt.
Schulhaus Champagne, Biel
Projektwettbewerb im offenen Verfahren
Veranstalterin: Einwohnergemeinde Biel
Wettbewerbsbegleitung: Tobias Grimm, Direktion Bau, Energie und Umwelt, Abteilung Hochbau, Biel
Fachjury: Dominique Salathé, Anne-Catherine Javet, Walter Vetsch, Jürg Saager, Eik Frenzel, Florence Schmoll (Ersatz)
– 1. Rang: Topotek 1, Zürich / Berlin
– 2. Rang: Bruno Baumgartner Architekt, Biel
– 3. Rang (Ankauf): TF Architektur, Basel
– 4. Rang: In-Out architecture, Genf
– 5. Rang: Aita Flury und Met Architektur, Zürich
– 6. Rang: Graser Architekten, Zürich
– 7. Rang: Dürig, Zürich
Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe des neu gestalteten Hochparterre Wettbewerbe.
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