Im Arealmassstab fordert die Zertifizierung nebst Minergie-Bauten auch Qualitäten hinsichtlich Energiemanagement, Klimaschutz, Freiraum und Mobilität. Zu Besuch bei zwei Pionieren.
Wir erinnern uns: 2022 wurde bekannt, dass das BFE ab 2024 keine 2000-Watt-Areale mehr zertifizieren wird. Als Ersatz im Rahmen des Harmonisierungsvorhabens präsentierten das Netzwerk Nachhaltiges Bauen Schweiz und Minergie 2023 je ein eigenes Areallabel. Das Minergie-Areal baut auf der bekannten Labelfamilie für Gebäudezertifizierungen auf und ergänzt übergeordnete Anforderungen. Für Areale ab 2 Gebäuden und 3‘000 m2 Energiebezugsfläche gilt:
- Minergie-Gebäude: Alle Neubauten und die Mehrheit der Bestandesbauten sind nach Minergie zertifiziert – sprich Minergie, Minergie-P (Fokus Gebäudehülle) oder Minergie-A (Fokus Klimaschutz), mit oder ohne ECO-Zusatz für ökologische und gesunde Materialien.
- Organisation & Monitoring: Alle Gebäude sind mit einem Energiemanagementsystem (EMS) ausgerüstet. Eine zu bezeichnende Organisation überwacht diese, koordiniert die Inbetriebsetzung und die anschliessende Optimierung.
- Klimaschutz in Betrieb & Erstellung: Für den Betrieb ist ein Energiekonzept samt Abwärmequellen zu erstellen. Bei Fernwärmeanschluss sind maximal 25% fossile Energie zulässig. Für die Erstellungsemissionen gibt es Arealgrenzwerte. Zwischen den Gebäuden darf kompensiert werden. Bei Ersatzneubauten wird der Wert abhängig zur Restlebensdauer der Rückbauten verschärft.
- Klimaangepasster Aussenraum: Mindestens 40% der Umgebung sind zu begrünen. Kompensation an Fassaden oder auf Dächern ist möglich. Für die Beschattung durch Bäume sowie Verdunstung, Versickerung und Retention gelten weitere Anforderungen.
- Förderung nachhaltiger Mobilität: Hinsichtlich Autos sind E-Ladestationen sowie ein Sharing-Angebot verpflichtend. Für Fussgänger und Velos sind ein feinmaschiges, an die Umgebung angeschlossenes Netz gefordert sowie ausreichende Abstellplätze, auch für Kinderwagen.
Wie bei der Minergie-Familie üblich, gibt es auch beim Areal eine provisorische Vorzertifizierung. Dazu müssen 17 Pflichtvorgaben sowie mindestens drei Wahlvorgaben nachgewiesen sein. Nach Bauabschluss und spätestens innert zehn Jahren erfolgt die definitive Zertifizierung. Zwei Jahre später gibt es eine weitere Kontrolle. Damit angesichts laufend überarbeiteter Reglemente Rechtssicherheit gewährleistet ist, gilt dabei stets der Zeitpunkt der ersten Antragsstellung.
So weit die Theorie. Nun zu den ersten Erfahrungen aus der Praxis.
suissetec Campus: Mit Bestand und Neubau zum ersten provisorischen Zertifikat
In Lostorf bei Olten bildet der Schweizerisch-Liechtensteinische Gebäudetechnikverband ‹suissetec› Fachkräfte aus. Im Rahmen der Energiewende und angesichts des andauernden Fachkräftemangels, ist in der Branche Nachwuchs gefragt, sodass eine Erweiterung und Aufwertung des Bildungscampus notwendig wurde. Mit Aussenarbeitsstation und interdisziplinären Werkstätten soll der Campus ein «Ort der Begegnung und des neuzeitlichen Lernens» sein, und ausserdem ein «Leuchtturm der Nachhaltigkeit» werden.
Im Zentrum der Arealentwicklung steht der Minergie-A-Neubau am Südrand, ein zweigeschossiger Quader mit Werkstätten, Labors, Schulzimmern und Begegnungszonen. Der «Energiewürfel» wird voraussichtlich Anfang 2025 bezogen. Photovoltaik-Module bedecken fast das gesamte Dach, Teile der Fassaden und produzieren über den Jahresverlauf rund doppelt so viel Strom wie benötigt. Dank eines Batteriespeichers und bidirektionalen E-Ladestationen dürften in der Jahresbilanz 73% des Stroms aus eigener Quelle stammen, nur 2% aus dem Netz und – wenn die saisonalen Schwankungen nicht ausgeglichen werden können – 25% aus einer Hybridbox.
«Die Hybridbox kombiniert Wärme-, Kälte- und Stromerzeugung», erklärt Markus Portmann von e4plus, der die Minergie-Zertifizierung koordinierte. Bei Bedarf produziert die Hybridbox Strom mit Biogas. Wärme und Kälte liefert sie via sechs gestuft zuschaltbare Wärmepumpen und ein Blockheizkraftwerk. Anfangs werden 45% der Wärmeenergie mit Holzschnitzeln produziert, nach der Sanierung der Bestandesbauten dürfte der Anteil gegen Null sinken. Portmann: «So können wir den vorhandenen Holzheizkessel auf dem Areal bis zum Ende seiner Lebensdauer sinnvoll nutzen.» Und die Verbindung von Wärme und Strom? «Im Zeitalter der Wärmepumpen werden diese Abhängigkeiten nur steigen, da geht die Zukunft hin. Allerdings ist der Automationsgrad einer solchen Lösung hoch und macht nur bei grossen und aktiv betreuten Projekten Sinn.»
Nachdem der Neubau im November 2024 bezogen ist, folgen bis 2030 die Minergie-Erneuerung des bestehenden Bildungszentrums und die Systemerneuerungen der zwei Hotelbauten aus den 1980er-Jahren. «Die Systemerneuerung erlaubt es uns, flexibel zu bleiben», so Portmann, «bei Bedarf können wir Gebäudehülle, Eigenstromerzeugung, Heizungsersatz und Erneuerung der Haustechnik gestaffelt ausführen – und trotzdem zertifizieren.»
In der Umgebung übertrifft das Areal sämtliche Anforderungen. Statt mindestens 40% der Umgebung sind 65% begrünt und statt mindestens 21% Beschattung mit Bäumen sind 50% ausgewiesen. In punkto Retention sind statt geforderten 67% ganze 100% erreicht. Sprich, so Portmann: «Wir leiten überhaupt kein Regenwasser direkt ab.»
Hinsichtlich E-Mobilität liessen sich die Gebäudetechniker:innen besonders viel einfallen: Die E-Ladestationen sollen bidirektional betrieben werden, sodass die Autobatterien als Zwischenspeicher genutzt werden können. «Das macht Sinn», sagt Portmann, «denn viele Besucher kommen für Weiterbildungen am Montagmorgen und bleiben bis Freitagabend.» Natürlich muss das auf Freiwilligkeit beruhen, schliesslich sind die Autos Privateigentum. Darum soll es einen Anreiz geben: Stellt man sein Auto als Stromspeicher zur Verfügung, soll beispielsweise das Zimmer im Hotel günstiger sein.
Fischermätteli: Mit Holzneubauten zum ersten definitiven Zertifikat
Das «Fischermätteli» ist ein peripher am Rande Burgdorfs gelegenes Areal. «Von Anfang an setzten wir voll auf Nachhaltigkeit», erklärt Didier Pichonnaz, Leiter Architektur bei den Strüby Unternehmungen. «Wir planten nach Minergie-A-ECO, veranstalteten einen Wettbewerb zur Landschaftsarchitektur und erarbeiteten ein Mobilitätskonzept.» Erst nach dem Bauen, als das Minergie-Areal publik wurde, stellte sich die Frage, ob eine Zertifizierung möglich sei. Sie war es, sagt Pichonnaz: «Ohne es zu wissen, haben unsere Planung und die Minergie-Anforderungen zusammengepasst.»
Die zehn Neubauten mit insgesamt 168 Wohnungen, die meisten davon im Eigentum, sind das grösste Wohnbauprojekt mit Schweizer Holz. Hinter den druckimprägnierten, hinterlüfteten Holzfassaden stecken ein Holzskelett und Brettstapel-Beton-Verbunddecken. Wo Holzträger nicht sichtbar sein sollten, sind Metallträger verbaut. «Flexibilität war uns wichtig», so Pichonnaz, «darum tragen auch nur die Fassaden, die Betonkerne und die Wohnungstrennwände – alle weiteren Wände nicht.»
Auf dem Dach liefern insgesamt 1‘800 PV-Module Strom. Um die von Minergie-A geforderte Stromproduktion – im Jahr so viel wie der Verbrauch – trotz Oblichtern nur auf dem Dach zu erfüllen, setzte man auf die effizientesten Panels am Markt. Einen Speicher gibt es nicht. «Produzieren wir mehr Strom als wir verbrauchen, speisen wir ihn ins Netz ein», erklärt Pichonnaz, «produzieren wir zu wenig, beziehen wir ihn.» Auch die Wärmeversorgung ist simpel: Eine Heizzentrale, mit Schweizer Pellets befeuert, produziert 500 Kilowatt.
Im Aussenraum liegen fünf Begegnungs- und Spielzonen, im Süden eine natürlich gestaltete Bachlandschaft. Es gibt schattenspendende Bäume, einheimische Sträucher und zwei Brunnen. Ausserdem gibt es einen gemeinschaftlichen Gartenpavillon und in einem Gebäude eine Homeoffice-Zone mit einem Aufenthaltsraum mit Küche, gedeckter Veranda, Reduits und WCs.
Das Areal selbst ist autofrei, unter den Häusern liegen zwei Einstellhallen mit total 243 Parkplätzen. 45 davon sind mit E-Ladestationen ausgerüstet, 30 weitere sind entsprechend vorinstalliert. Ausserdem stehen zwei E-Autos zum Mieten zur Verfügung. Diese lassen sich mit jener App buchen, die auch den Co-Working-Space und den Gemeinschaftsraum koordiniert. «Dank des Sharing-Angebots brauchen nicht alle Wohnungen zwei Parkplätze», sagt Pichonnaz, und erläutert den Langsamverkehr: Acht Unterstände und drei Räume bieten 399 Abstellplätze für Velos und weitere Flächen für Kinderwagen et cetera. Dazu kommen 22 E-Ladestationen, zwei Reparaturbereiche und eine Velodusche. Und auf eine Sache ist Pichonnaz besonders stolz: «Der Bus nach Burgdorf fährt neu im Halbstundentakt. Die Probezeit haben wir auf eigenes Risiko mitfinanziert.»
Die Rubrik Werkplatz ist eine Kooperation von Hochparterre mit ausgesuchten Firmen und Institutionen des Werkplatzes Schweiz.
suissetec Areal, 2025-2030
Lostorf SO
– Bauherrschaft: suissetec, Zürich
– Generalplanung: S+B Baumanagement, Olten & Architektur Curcio, Visp
– Nachhaltigkeit: e4plus, Kriens
– Gebäude: Neubau Minergie-A
– THGE Erstellung: 13.3 kgCO2eq/m2a
– Energiebezugsfläche: 3‘300 m2 (Neubau) + 12‘400 m2 (Erneuerung)
– Strom: PV 2‘800 m2 (Dach) + 850 m2 (Fassade) mit total 750 kWp, 600 MWh/Jahr, Batterie 530 kWh
– Elektrische Bilanz: 73% PV, 25% Hybridbox, 2% Netz
– Leistungen Hybridbox: 270 kW thermisch mit Wärmepumpen, Blockheizkraftwerk 135 kW thermisch und 90 kW elektrisch
– Thermische Bilanz: 55% Hybridbox, 45% Holzschnitzel (vor Erneuerungsetappen)
– Umgebung: 65 % begrünt, 50 % beschattet, 100 % Retention vor Ort
– Mobilität MIV: 185 Parkplätze oberirdisch, 12 E-Ladestationen, weiterer Ausbau bedarfsgerecht
– Mobilität Langsamverkehr: Veloparkplätze gedeckt im Aussenraum, voraussichtlich plus Veloverleih-Angebot
– Wahlvorgaben Minergie: B1.5 Visualisierung Messgrössen für Nutzende, D1.5 Regenwassernutzung, E2.6 Bidirektionale Ladestationen
– Zertifikat: 1. Provisorisches Zertifikat als Minergie-Areal
Fischermätteli, 2023
Burgdorf BE
– Bauherrschaft: Strüby Immo AG
– Architektur & Gesamleistung: Strüby Konzept AG
– Holzbau: Strüby Holzbau AG
– Gebäude: Neubauten Minergie-A-ECO
– THGE Erstellung: 11.3 kgCO2eq/m2a
– Energiebezugsfläche: 22‘905 m2
– Strom: PV 3‘200 m2 (Dach), 720 kWp, 700 MWh/Jahr
– Wärme: Heizzentrale mit Schweizer Holpellets, 500 kW
– Umgebung: 54 % begrünt, 31 % beschattet, 87 % Retention vor Ort
– Mobilität MIV: 24 Besucherparkplätze oberirdisch, 243 Parkplätze unterirdisch, 5 E-Ladestationen, 2 Sharing-Cars
– Mobilität Langsamverkehr: Areal autofrei; Bus neu im Halbstundentakt; 8 Velostationen gedeckt, 5 Veloräume, 22 E-Ladestationen, 2 Reparaturbereiche, 1 Velodusche
– Wahlvorgaben Minergie: C2.2 Einsatz lokaler Ressourcen, D1.4 Durchlüftung im Areal, E2.4 Areal-interne Angebote zur Verkehrsreduktion, E2.5 Mobilitätsmanagement zur MIV-Reduktion, E2.7 Joker Mobilität
– Zertifikat: 1. Zertifizierung als Minergie-Areal