Berglandschaften sind eine Wunderkammer der Tiere und Pflanzen. Die Initiative für Biodiversität stärkt sie. Eine Ortsbesichtigung am Schamserberg im Kanton Graubünden.
Langrüsselschwein, Elefantenfisch und Doppelschweifwolf – an der Decke der Kirche St. Martin in Zillis haben Maler im Mittelalter eine prächtige Menagerie porträtiert. Wie sie drohen auch das Schneehuhn, die Sandbiene oder der Wasserpfeifer ausgerottet zu werden, wenn wir ihren Lebensräumen weiterhin mit unserem Wirtschaften zusetzen. Doch es ist keineswegs aller Tage Abend.
Nach vier Stunden Aufstieg über Wiesen und durch Wäldchen sitze ich etwas getröstet für die Mittagsrast am Ufer des Libisees. Unterwegs über die 1000 Höhenmeter habe ich Borstgräser, Seggen, Skabiosen, Thymian, Salbei, Wundklee, Wollgras und viele weitere Blumen-, Moos-, Baum- und Pilzarten gesehen. Pflanzen auch, von denen ich keine Ahnung habe. Meisen, Spatzen, Rotschwänzchen, Bachstelzen, Feldlerchen und gar ein Lämmergeier hoch oben haben mich begrüsst. Eine Schlange ist vor mir geflohen, und auf eine Schnecke bin ich getrampelt. Rinder schauten mich an, Schafe, Kaninchen und Schweine. Kein Wolf. Dafür sah ich eines der selten gewordenen Braunkehlchen, und über meinem Zmittag am Libisee führten sieben Libellen ein Ballett auf.
Diese Artendichte hat nebst den wirtschaftlichen und sozialen Besonderheiten mit einer geografischen Eigenart von Berglandschaften zu tun. Die Gemeinde Muntogna da Schons, der Schamserberg, beginnt auf 800 Meter über Meer und geht hinauf bis auf den Piz Beverin auf fast 3000 Meter über Meer. Fettwiese und Autobahnbord im Talgrund, Magerwiesen, Hochmoore, Wälder und Lichtungen, Bäche, Alpweiden, Geröll und Geschiebe, Felsen, Schneefelder bis in den Sommer und das Seelein machen hier Landschaft. Und jedes dieser Biotope hat seine eigene Pflanzen- und Tiergesellschaft.
Landwirtschaft für und gegen die Vielfalt
Nach dem Zmittag zottle ich über die Bergwiesen dem Hang nach. Und erinnere mich, wie ich als Bubenknecht bei Öhi Hitsch auf Stels im Prättigau mit Sense, Einachsertraktörli, Rechen und Heutuch mit dafür sorgte, dass die Magerwiesen und Weiden Paradiese solcher Vielfalt sein können. In meiner Lebensspanne hat die Landwirtschaftspolitik das Bauern in den Alpen grundlegend verändert; gewiss in vielem auch zum Guten. Dass es diese Vielfalt von Trespen-, Blaugras- und Borstgraswiesen und dem selten gewordenen Schwingrasen, über die ich nun trotte, überhaupt noch gibt, hat viel mit dem ausgeklügelten Geldfluss zu tun, mit dem Staat und Gesellschaft die Bauern für ihr pflegendes Tun bezahlen. Von den Subventionen stützt aber nur ein kleiner Teil die Biodiversität. Der grössere Teil heizt das Verschwinden der Arten an. Das betrifft vor allem die grossen Bauernbetriebe im Flach- und im Unterland, gilt aber auch im Gebirge. Die Biodiversitätsinitiative will die Aussichten der Tiere und Pflanzen verbessern, und sie wird im ihr folgenden Gesetz die Subventionsströme hoffentlich so lenken, dass sie die Artenvielfalt stärken, statt sie zu vernichten. Und die Initiative wird dafür sorgen, dass Tiere und Pflanzen genügend Raum haben. Wenn ich die Schönheit der Landschaft am Schamserberg sehe, wird das nicht nur zur Freude meines Gemüts geschehen, sondern auch zu jener der Bäuerinnen und Bauern – und freilich der Tiere und Pflanzen.
Tourismus gegen die Vielfalt
Über die Pfade und Meliorationsstrassen entlang des Schamserbergs stapfend, denke ich tröstlich im Konjunktiv. Hier könnten die Masten mehrerer Skilifte und Sesselbahnen stehen; die Kuppen und Dellen wären planiert, der Libisee ausgebaut zum Speicher für das Wasser, das durch in die Erde vergrabene Leitungen zu den Lanzen und Rotoren der Schneekanonen flösse. Oben am Berg stünden Restaurants mit Terrassen, und unten wäre ein Parkplatz für 400 Autos ins Gelände gewuchtet. 1995 wollten die Tourismuspromotoren all das bauen, so wie sie in jenen Jahren zwischen dem Schamserberg und dem Rosenhorn im Berner Oberland, zwischen Samnaun und der Tête de Balme im Wallis 25 neue Bergbahnen planten. Auch wenn wirtschaftlicher Verstand und Widerstand der Naturschützer etliche dieser Vorhaben kippten, sind die Berglandschaften seither beträchtlich ausgebaut worden. Mehr als die Hälfte der Pisten wird mittlerweile künstlich beschneit, weite Flächen sind planiert. Tausende Parkplätze sind dazugekommen, und zu den Winter- drängen kräftig die Sommersportlerinnen. Auch wir Wanderer sind bald überall. Dass dieser Ausbau auf Kosten der Biodiversität geht, ist vielfach erforscht und laut beklagt. Die Biodiversitätsinitiative ist ein Werkzeug, um die Landnahme des Tourismus so zu steuern, dass – ähnlich wie beim Raumplanungsgesetz die Häuser – die Bergbahnen nur noch in den ihnen bereits gegebenen Terrains hinauf- und hinunterfahren sollen.
Kraftwerke gegen die Vielfalt
Am späten Nachmittag halte ich meine Füsse in eine Wasserfassung im Valtschielbach oberhalb von Wergenstein. Sie sammelt das Wasser und leitet es seit mehr als 60 Jahren vom Schamserberg in das Stromreich der Kraftwerke Hinterrhein. Es besteht aus Speicher-, Pump- und Laufkraftwerken, zwei Stauseen, zahllosen Bachfassungen, Kavernen und drei Zentralen. Strom aus Wasserkraft gilt als klimavernünftige Alternative zur Energie aus Erdgas und -öl, deren CO2-Last die Biodiversität weltweit tiefgreifend verändert hat und immer noch verändert. Das Regime des Stroms aus Wasserkraft – mit Fassungen, Speichern, Kanälen und Zentralen – verlangt allerdings erhebliche Eingriffe in die Gesellschaften der Tiere und Pflanzen. Weite Teile der Gewässer in den Alpen sind bereits verbaut und in Kraftwerksysteme eingebunden. Dennoch trumpfen die Kraftwerke weiter mächtig auf. Allein im Kanton Graubünden haben sie im ‹Richtplan Energie› 40 neue Installationen für Stauseen, Kanal- und Bachbauten eingetragen. Interessiert schauen sie auf die schmelzenden Gletscher im Hochgebirge. Statt der Pflanzen- und Tiergesellschaften, die auf den neuen Vorfeldern Biotope von seltener Schönheit bilden, sollen auch dort Stauseen entstehen. Die Biodiversitätsinitiative sagt: «Genug nun!» Nicht nur die Terrains der Bauern und der Tourismusleute sollen behütet werden. Auch die geplante enorme Landnahme der Wasserkraftwerke im Gebirge muss aufhören.
Erquickt vom Wasser des Valtschielbachs zottle ich weiter über den Schamserberg. Er ist Teil des Naturparks Beverin, und wie in den anderen 19 Naturpärken der Schweiz wird auch hier die Biodiversität erforscht und behütet. Und da der Mensch liebt und schützt, was er weiss, sind die Pärke mit ihrem Angebot von Kursen, Exkursionen und Schriften Schulen für Naturkunde. Die Initiative für die Biodiversität wird die Pärke und ihre Aufgaben stärken. Im Dörflein Wergenstein angekommen, trinke ich einen Most im Restaurant Capricorns – ein für die Biodiversität guter Name, ist es doch vor einem Menschenleben schon gelungen, den in Graubünden seit 1640 ausgerotteten Steinbock, den Capricorn, wieder anzusiedeln.
Wanderung am Schamserberg
Die Wanderung von Zillis (944 Meter über Meer) über Donath, Farden, Lohn und Nutschias hinauf zum Libisee (2001 Meter über Meer) und dann entlang dem Schamserberg nach Wergenstein (1487 Meter über Meer) dauert sieben Stunden. Wer abkürzen will, fährt mit dem Postauto nach Lohn. Im ‹Capricorns› in Wergenstein lässt es sich gut essen und schlafen, sodass man am nächsten Tag über Dumagns und die Alp Tumpriv auf den Piz Tarantschun steigen und dann hinunter auf den Glaspass zotteln kann. Für etwas Erleichterung sorgt ein Bus Alpin auf die Alp Tumpriv. Mit ihm ist man fünf, ohne ihn acht Stunden unterwegs. Wer aufmerksam ist, trifft Steinböcke, Schneehühner und Gämsen. Und es gibt viel Erlengestrüpp zu sehen, wo einst Wiesen waren. Wir lernen also: Landschaft und Biodiversität brauchen Pflege und die Arbeit der Bauern, sonst kommt die Erle und überwächst alle Vielfalt.