«Was würde Florence Nightingale denken?»

Mittels präziser Simulationen untersuchen Ärztinnen, Architekten und Pflegende, was digital gestützte Pflegemodelle zu leisten vermögen. Das Potenzial ist gross – genauso wie die Herausforderungen.

Fotos: Marco Frauchiger
In Zusammenarbeit mit Swiss Center for Design and Health

Mittels präziser Simulationen untersuchen Ärztinnen, Architekten und Pflegende, was digital gestützte Pflegemodelle zu leisten vermögen. Das Potenzial ist gross – genauso wie die Herausforderungen.

In einem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer sitzt zusammengesunken ein älterer Mann. Seine Brust hebt und senkt sich schwerfällig. Fast scheint er wegzudämmern, als ihn ein Klopfen aufschreckt. Mühsam stemmt er sich aus dem Sessel und öffnet einer jungen Frau die Tür. Sie trägt einen grünen Kittel und einen prall gefüllten schwarzen Koffer, den sie behutsam auf dem Holztisch platziert. Sofort fängt der Mann an zu erzählen, klagt über Herzrasen und die Angst, ohnmächtig zu werden. Beide tragen Filzpantoffeln über den Schuhen, hoch über ihren Köpfen schweben riesige Scheinwerfer.

Die Szene ist Teil des Symposiums ‹Building trust: Designing for remote care› des Swiss Center for Design and Health. Ein Kreis von Beobachterinnen verfolgt das Geschehen aufmerksam, macht Notizen und filmt mit dem Smartphone. Viele gehören dem Team des SCDH an, das für den zweitägigen Anlass vier Testszenarien vorbereitet hat. Die Simulationen sollen zeigen, wie sich die Einbindung digitaler Prozesse in die Gesundheitsversorgung auf Patienten, Pflegende, Ärztinnen und Angehörige auswirkt. Fallbeispiel ist die Geschichte eines herzkranken Mannes, der soeben aus dem Krankenhaus entlassen und zu Hause hospitalisiert worden ist. ‹Hospital at Home› nennt sich das Konzept, das eine klinische Versorgung in den eigenen vier Wänden vorsieht.

Das Wissen der Nutzerinnen abholen
Als Protagonisten wirken Pflegefachfrauen, Ärzte und Mitarbeiterinnen. Auch Schauspieler sind mit dabei. Obwohl ihnen die Erfahrungen der Patienten fehlen, sind ihre Gefühle während des Rollenspiels wichtige Indikatoren. «Die Methode der Simulation ist in der Designforschung sehr wertvoll», sagt Minou Afzali, Forschungsleiterin des SCDH. «Diese Szenen am eigenen Leib zu erfahren, ist ein guter Ausgangspunkt für eine Diskussion.»

Diskutiert wird hier viel: Jeder Handgriff, jede Entscheidung der Beteiligten wird während des Debriefings analysiert. «War der Prozess nicht fast zu perfekt? Widerspiegelt dieser geduldige Umgang tatsächlich die Realität?», fragt Dean Harder die Teilnehmerinnen. Der Professor der Berner Fachhochschule hat das Symposium mitorganisiert und ist Mitglied des Scientific Board am SCDH. Anwesend sind auch verschiedene Mitglieder des internationalen Advisory Board, angereist aus Schweden, Kanada und den USA. In der weitläufigen Halle finden Menschen aus der öffentlichen Gesundheit, Pflege, Medizininformatik, Sozialanthropologie, Chirurgie, Notfallmedizin, aus Design und Architektur zusammen. Die Gruppe bewertet den Einsatz des digitalen Kommunikationstools besonders konzentriert. Gemäss Skript stellt die Spitex-Angestellte einen Videoanruf mit dem zuständigen Kardiologen des Spitals her, der via Fernkonsultation Anweisungen gibt und den Herzpatienten beruhigt. Der Bildschirm dafür steckt im schwarzen Koffer, der ausserdem medizinisches Zubehör enthält. Obwohl die anwesenden Fachleute in der demonstrierten zweistufigen Behandlung Vorteile sehen, erkennen sie auch kritische Punkte. Diese betreffen vor allem die Rolle der Pflegenden, deren Aufgabenspektrum durch die technologische Unterstützung wächst.

Die Auseinandersetzung mit digital gestützten Pflegemodellen ist dringend nötig: Nur wer Erfahrungen sammelt, kann beurteilen, welche Tools gebraucht werden und wie ihre Handhabung aussehen soll. Als Schnittstelle zwischen Patienten, Angehörigen und Spital zu interagieren, macht Pflegende zu zentralen Figuren. Ihr Wissen gilt es an die Tech-Entwicklerinnen weiterzugeben. «Sie sollen Technologien entwickeln, die uns dabei helfen, den Patienten zu helfen», fordert eine Medizininformatikerin. Die ehemalige Pflegefachfrau hatte zuvor die Rolle der Spitex-Angestellten übernommen. Dass der schwarze Koffer mit dem Bildschirm die Bedürfnisse des Pflegepersonals nicht berücksichtigt, ist offensichtlich – immerhin wiegt er zwölf Kilogramm. Für jemanden, der täglich Städte durchquert, um nach Kranken zu sehen, dürfte dies kaum praktikabel sein.

Hybride Räume gestalten
Die Simulation wirft viele technologische Fragen auf. Doch auch der physische Raum spielt eine wichtige Rolle. Vielerorts hinkt er der Entwicklung hinterher: Spitäler haben oft nur wenige Büros, für Pflegefachleute sind ohnehin kaum welche vorgesehen. Wo also lassen sich die in der Telemedizin notwendigen Videogespräche durchführen? Finden sie in einer Umgebung voller akustischer und visueller Störungen statt, dürfte der Kontakt für die Patienten wenig vertrauensbildend sein. Dabei ist Vertrauen zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung.

In den «realitätsnahen Testräumen», wie die Wohnungskulissen intern heissen, können Faktoren wie Licht, Farben oder Materialien und ihr Einfluss auf die Erfahrungen der Nutzenden überprüft werden. Wichtiger aber ist die Möglichkeit, in diesen Räumen Handlungsabläufe auf die Probe zu stellen. Denn obwohl Patientinnen die Sprechzimmer während einer Fernkonsultation nicht physisch betreten, ist deren Gestaltung elementar. Wie diese eingerichtet sind, will also sorgfältig geplant und auf diverse Szenarien abgestimmt sein. Hält eine Therapeutin die Onlinesitzung auf dem Sofa ab, so muss der Bildschirm auf Augenhöhe sein, das Mobiliar entsprechend designt. Schliesslich blicken sich Arzt und Patientin auch in der Praxis geradeaus ins Gesicht. «Therapie und Technologie sollten miteinander gedacht werden, sie bilden ein System. Die Technik darf nicht erst hinterher implementiert werden», so fasst es eine anwesende Psychoanalytikerin zusammen.

Spitäler entwickeln sich immer mehr zu hybriden Orten, die sowohl für die herkömmliche als auch für die digitale Gesundheitsversorgung gebaut werden. Wie komplex deren Planung sein wird, zeigt sich am SCDH deutlich. Man braucht sich lediglich die ‹User Journey› einer digitalen Konsultation vorzustellen, angefangen beim digitalen Warteraum in der Praxis. Dementsprechend akribisch hat das Team das Skript für die Testszenarien vorbereitet. Wo der Schwerpunkt jeweils liegen soll, ist genau definiert. «Im Operationssaal beispielsweise spielt das Infektionsrisiko eine wichtige Rolle, in einem Altersheim ist es eher die Sicherheit der Bewohnenden», sagt Minou Afzali.

«Was würde Florence Nightingale wohl denken?», fragt Nirit Pilosof, Forschungsleiterin am Sheba Medical Center in Israel, in die Runde. Auch sie gehört zu den Organisatorinnen des Symposiums. «Sie würde es bestimmt schätzen, dank der Technik so viele Daten zur Verfügung zu haben, um damit Umgebungen zu gestalten.» Die 1910 verstorbene britische Krankenschwester und Statistikerin Florence Nightingale gilt als Begründerin der modernen Krankenpflege. Unter anderem beschäftigte sie sich damit, wie sich Umgebungen auf die Gesundheit auswirken.

Remote Care
In der vertrauten Umgebung des eigenen Zuhauses bleiben zu können, wirkt sich positiv auf die Genesung aus. Studien zeigen, dass die Patienten im ‹Hospital at Home› weniger lang im Bett liegen und schneller gesund werden. Für wen dieses Behandlungskonzept geeignet ist, hängt vor allem von der Art der Krankheit und der Lebenssituation ab. In der Schweiz ist die Pflege zu Hause bei Senioren verbreitet, doch die Akutversorgung deckt sie nicht ab. In anderen Ländern – etwa Norwegen, Israel oder Japan – ist man bereits weiter. Gepusht durch die Pandemie, will man nun auch hierzulande vorwärtsmachen. Dank des technischen Fortschritts würden dereinst nur noch jene Patienten im Spital behandelt, die keine andere Möglichkeit haben. Die anderen könnten zu Hause versorgt werden.

Dabei geht es nicht allein um das Wohlergehen der Patientinnen. Das neue Modell verspricht auch eine Entlastung der Spitalinfrastruktur – und Sparpotenzial. Vorerst zeigt sich jedoch, dass es vor allem zeit- und personalintensiv ist. Dies könne sich mit zunehmender Erfahrung und Effizienz verbessern, meinte im Mai laut einem Zürcher Medienhaus ein Experte. Und lobte Grossbritannien: «Dank elektronischer Überwachung kümmern sich dort vier speziell ausgebildete Pflegefachkräfte gleichzeitig um bis zu 60 Patienten.» Ob dies ein wünschenswertes Szenario ist, ist fraglich. Am Potenzial der ‹Remote Care› rüttelt es nicht. Dass die entsprechenden Technologien bald im Einsatz sein werden, bezweifelt am SCDH niemand. Deshalb will man dafür sorgen, dass ihre Implementierung im Sinne der Nutzerinnen stattfindet. Und dass Planerinnen, Architekten, Designerinnen und Softwareentwickler lernen, die Perspektive von Versorgungsleistenden und Patientinnen mitzudenken.

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